Der Menschensohn "wird den Heiden ausgeliefert, verspottet, mißhandelt
und angespien werden; man wird ihn geißeln und töten."
Nicht wenige Menschen stellen die Frage: "Wenn das so stimmt, wie Jesus
sagt, warum setzt er sich nicht durch?" Anders ausgedrückt: Nur derjenige
ist im Recht, dessen Aussage sich durchsetzt. Wer die Mehrheit der Stimmen
erhält, der hat recht. Wenn die Mehrheit sagt, die Erde ist eine flache
Scheibe, dann ist die Erde nun einmal eine flache Scheibe. Jede weitere
Untersuchung dazu ist unzulässig, weil die Mehrheit entschieden hat.
Jesus sagt sein Leiden voraus. Doch im Judentum wurde geträumt
von einem Messias, der nur in Macht und Herrlichkeit erstrahlt. Von diesem
jüdischen Denken sind auch die Apostel angesteckt. Als Reaktion auf
die Leidensankündigung heißt es über die Apostel: "Allein
sie verstanden nichts davon; diese Rede war für sie dunkel, und sie
begriffen nicht, was damit gemeint war." Es passt nicht in ihr jüdisches
Weltbild, dass der Messias, der Gesalbte Gottes, in Erniedrigung sein könnte.
Wer im Wohlgefallen Gottes lebt, und das gilt insbesondere vom Messias,
der kann nicht Opfer eines solchen Unrechtes werden, für den darf
es keine Verspottung, erst recht keine Misshandlung, geschweige denn ein
gewaltsames Ende geben. Trotzdem mussten die Apostel Zeugen werden, wie
all das eingetreten ist, was Christus vorausgesagt hat.
Es mutet deshalb seltsam an, wenn auch heute noch die jüdischen
Vorstellungen von der irdischen Wohlfahrt des gottergebenen Menschen begegnen.
Der Gerechtigkeit ist nicht unbedingt dann schon genüge getan, wenn
jemand ausgeliefert wird, wenn er verpottet, mißhandelt und angespien
wird; wenn man ihn geißelt und tötet. Es kann auch sein, dass
wenige Unschuldige einer unüberschaubaren Anzahl von Schuldigen gegenüberstehen.
Wendet man das Mehrheitsprinzip an, ist die Sache einfach: Die Schuldigen
haben, weil in der Überzahl, das Recht auf ihrer Seite, und die Unschuldigen
sind im Unrecht. Hüten wir uns unbedingt vor diesem jüdischen
Weltbild, zumal Christus auch für seine Jünger den Hass voraussagt,
dem er selbst ausgesetzt war.
An die Voraussage des Leidens knüpft Christus die Voraussage der
Auferstehung: "aber am dritten Tage wird Er wieder auferstehen." Bei der
Auferstehung der Toten wird der Gerechtigkeit endgültig und vollkommen
Genüge getan. Darauf muss sich stets unser Blick richten. Lassen wir
uns nicht von dieser Welt gefangen nehmen. Hüten wir uns davor, in
den Vergnügungen dieser Welt unterzugehen. Hüten wir uns davor,
an den manchmal bitteren, furchtbaren Erfahrungen dieser Welt zu zerbrechen.
Halten wir unseren Blick stets wach: Christus ist durch Leiden und Tod
gegangen, um dann in Herrlichkeit zu erstrahlen.
Im weiteren Verlauf des heutigen Evangeliums steht die Wunderheilung
des Blinden von Jericho. Zunächst fällt dieser Gegensatz zwischen
dem Blinden und dem Volk auf. Das Volk sieht zwar mit den Augen, aber es
sieht nicht die Wirklichkeit. Die Mehrheit des jüdischen Volkes bleibt
blind für Christus. Das jüdische Volk verschließt den Blick
vor der Realität und gefällt sich in Messias-Träumereien,
die aus menschlichem Wunschdenken geboren, aber nicht aus der göttlichen
Offenbarung gewonnen sind. Wie anders doch der Blinde von Jericho, der
sich trotz der Schelte, er solle schweigen, mit noch lauterer Stimme an
Christus wendet: "Sohn Davids, erbarme dich meiner".
In dieser Bitte liegt nicht der Vorwurf, der in unserer gottlosen Zeit
so beliebt ist: "Wieso lässt Gott mein Leid oder das Leid von anderen
zu?" Dieser Vorwurf wird dann gerne noch übersteigert in: "Weil Gott
so böse ist, mein Leid oder das Leid von anderen zuzulassen, will
ich nichts von ihm wissen." Statt dessen formuliert der Blinde mit Eifer
und Vertrauen die Bitte um Erbarmen. Und als Christus den Blinden fragt:
"Was soll ich dir tun", antwortet der Blinde: "Herr, daß ich sehe".
Während das jüdische Volk also mit der selbst gewählten
Blindheit geschlagen ist, schenkt Christus denen, die ihn darum bitten,
die Sehkraft. Nun ist die Frage, wie man seine Sehkraft nutzt. Worauf richtet
man seinen Blick? Ist unser Blick getrübt, weil wir an die Stelle
der göttlichen Offenbarung menschliches Wunschdenken gesetzt haben?
Sehen wir Christus so, wie er uns im Evangelium begegnet, oder erträumen
wir uns einen Messias, der mit dem Evangelium kaum etwas zu tun hat. Und
wie sehen wir die katholische Kirche, die der mystische Leib Christi ist?
Haben wir ein Kirchenbild, das der Lehre vom mystischen Leib Christi entspricht?
Oder erträumen wir uns ein Zerrbild von Kirche, in dem u.a. auch das
Mehrheitsprinzip regiert. Die Entscheidung ist unausweichlich: Ist das
die Kirche, was von Christus als Gemeinschaft im wahren Glauben und in
den wahren Sakramenten unter den rechtmäßigen Hirten gegründet
wurde, oder ist das die Kirche, was die Mehrheit für die Kirche hält.
Und weiter: Haben wir unseren Blick gar mit Wohlwollen auf Böses
gerichtet, haben wir uns an Gedanken und Ereignissen erfreut, die mit der
christlichen Lehre unvereinbar sind? Gab es Blicke, die geprägt waren
von Hass, Neid, Unreinheit, Gier? Wenn das der Fall war, setzen wir einen
Schlussstrich. Sehen wir ungetrübt, wie und wie oft wir Gott beleidigt
haben, richten wir unseren Blick wieder auf Christus und versuchen wir,
unseren Blick künftig nicht mehr von ihm abzuwenden.
Der Blinde hat sich entschieden: Er pries Gott und folgte Jesus. So
muss auch unsere Entscheidung aussehen, selbst dann, wenn uns vor Augen
steht, dass wegen der Nachfolge Christi Spott, Misshandlung und gewaltsamer
Tod drohen können. Wir brauchen und dürfen unsere Augen nicht
davor verschließen, dass nach weltlichen Maßstäben Nachteile
aus der Glaubenstreue entstehen können.
Öffnen wir die Augen für Christus, flehen wir ihn an, dass
wir ihn als den Herrn erkennen, und dass wir die Begrenztheit dieser Welt
erkennen. Richten wir unseren Blick auf die Ewigkeit, damit wir uns dereinst
der beseligenden Anschauung Gottes erfreuen dürfen. Amen.
S. auch:
Der Staat als Satansdiener