Im Schott heißt es zum heutigen Weißen Sonntag einleitend:
"Der heutige Tag führt den Namen Dominica in Albis (depositis bzw.
deponendis): «Sonntag der (abgelegten bzw. abzulegenden) weißen
Gewänder». Die weißen Taufkleider, die von den Täuflingen
seit Karsamstag getragen wurden, wurden am gestrigen (in manchen Kirchen
am heutigen) Tage wieder abgelegt, «jedoch so, daß das schimmernde
Weiß, das mit dem Kleide abgelegt wird, im Herzen bewahrt werde»
(hl. Augustinus). Quasi modo wird der Sonntag von den Eingangsworten des
Introitus genannt."Als Bibelstelle des Introitus, des Eingangsverses, wird
ein Vers aus dem Ersten Petrusbrief angegeben. In der Messe lautet der
Introitus: "Quasi modo geniti infantes, alleluja: rationabiles, sine dolo
lac concupiscite", und der Schott bietet die Übersetzung: "Wie neugeborene
Kindlein, alleluja, doch schon voll Einsicht, verlangt ohne Falsch nach
Milch". Auch wenn man der lateinischen Sprache nicht mächtig ist,
könnten dennoch Teile des lateinischen Textes bekannt klingen. Das
Wort infantes, Kleinkinder, liegt dem Wort infantil zugrunde: Infantil
bedeutet "wie ein Kleinkind" und wird oft geringschätzig gebraucht
im Sinne von unreif, kindisch. "Rationabilis" ist, wie das deutsche Wort
rational, abgeleitet von ratio, Verstand, Vernunft. Im griechischen Originaltext
steht "logikos"; das logische Denken ist eben das Vernunftgemäße,
die Logik ist die Folgerichtigkeit. Auch die lateinischen Wörter "sine
dolo", "ohne Hinterlist", könnten bekannt sein. Dolose Handlungen
sind arglistige, böswillige Handlungen.
Auf der einen Seite steht die Unreife des Kleinkindes, auf der anderen
Seite steht die Vernunft, die Ratio, die Logik. Da stellt sich jetzt die
Frage, warum dieser Gegensatz von kindlicher Unreife auf der einen Seite
und Vernunft auf der anderen Seite hier praktisch aufgehoben ist: "Wie
neugeborene Kindlein, doch schon voll Einsicht".
Man kann über diesen Eingangsvers in zweifacher Weise nachdenken.
Zum einen so, wie er in der Liturgie uns vorgestellt wird, also: "Wie neugeborene
Kindlein, doch schon voll Einsicht, verlangt ohne Falsch nach Milch." Dabei
bezieht man also die beiden näheren Bestimmungen "voll Einsicht" und
"ohne Falsch" auf die Kindlein. Hierbei darf man, mit Blick auf die heutige
Liturgie des Weißen Sonntags, an diejenigen denken, die am Karsamstag
getauft worden sind und die in der Osterwoche die weißen Gewänder
getragen haben. Sie stehen am Anfang ihres christlichen Lebens, aber sie
sind schon voll Einsicht insofern, als sie Christus als den Erlöser
anerkennen und, von der Erbsünde befreit, in der heiligmachenden Gnade
stehen. Sie sollen die Milch, die Nahrung für ihr Leben als Christen,
"ohne Falsch", ohne bösen Hintergedanken empfangen. Also auch sie
sind noch klein und bedürfen des Wachstums, mit Vernunft und ohne
Arglist.
Allerdings kann man auch auf andere Weise über den Eingangsvers
nachdenken, und zwar so, wie er im Originaltext (1 Petr 2,2) lautet: "Wie
neugeborene Kinder verlangt nach der geistigen, lauteren Milch, um durch
sie zum Heile heranzuwachsen". Im griechischen Originaltext und dementsprechend
in der Vulgata, der lateinischen Übersetzung durch den hl. Hieronymus,
werden die näheren Bestimmungen "vernünftig" und "ohne Falsch"
auf die Milch bezogen. Die Nahrung soll von Vernunft bestimmt und von Bosheit
frei sein. Diese Milch wird von den Bibelkommentatoren bezeichnet als "das
lautere und unverfälschte Wort Gottes". Nach der Wahrheit der christlichen
Lehre soll man verlangen, aber jeden Trug, jede Bosheit verabscheuen.
Man muss die Unterschiede zwischen dem liturgischen und dem biblischen
Text nicht überstrapazieren. Um Wachstum, notwendiges Wachstum, geht
es in beiden Sichtweisen. Man muss im christlichen Leben wachsen. Man muss
versuchen ein immer besserer Christ zu werden. Man muss gewissermaßen
erwachsen werden. Man muss mit Verstand, mit Ratio, mit Logik seinen Weg
gehen. Man muss kindische Sichtweisen, kindische Streitereien, kindische
Schwärmereien ablegen und meiden. Bosheit, Arglist, dolose Handlungen
darf es im christlichen Leben nicht geben.
Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Bemühen wir uns wirklich
mit der notwendigen Sorgfalt, kindische Schwärmereien und Oberflächlichkeiten
hinter uns zu lassen? Betrachten wir Fragen des christlichen Glaubens wirklich
mit der notwendigen Sachlichkeit? Oder lassen wir uns wie kleine Kinder,
ohne Vernunft, nur allzugerne von Gerüchten in die Irre leiten? Wenn
uns jemand irgend einen groben Unfug ins Ohr flüstert, wie reagieren
wir darauf? Überprüfen wir das Gerücht mit nüchterner
Sachlichkeit, oder schenken wir ihm gegen jede Vernunft einfach Glauben?
Scheuen wir uns, erwiesenermaßen falsche Lehren als falsche Lehren
zu erkennen und beim Namen zu nennen, um sie zu verurteilen? Verlangen
wir nach der geistigen, lauteren Milch? Oder scheuen wir uns, die geistige,
lautere Milch anzunehmen?
Gibt es in unseren Gedanken, Worten und Werken Arglist und Bosheit?
Wonach verlangen wir? Verlangen wir nach Wahrheit und Gerechtigkeit, oder
nach Unwahrheit und Ungerechtigkeit? Gehen wir mit dem Gebot der Nächstenliebe
mit dem notwendigen Ernst oder mit kindischer Leichtfertigkeit um? Ist
es nicht vielleicht in dem einen oder anderen Bereich unseres Lebens Zeit,
vielleicht sogar höchste Zeit, Kindisches abzulegen? Ist es nicht
vielleicht Zeit, mit erwachsener Reife Gutes zu unternehmen und Böses
zu unterlassen?
Das heutige Evangelium berichtet auch von der Übertragung der
Sündenvergebungsgewalt an die Apostel: "Empfanget den Hl. Geist. Welchen
ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen; und
welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten." Will man Bosheit,
Arglist, Leichtfertigkeit ablegen, wird man gerne das Beichtsakrament als
Mittel und Hilfe auf dem Weg der christlichen Reifung in Anspruch nehmen.
Es wäre kindisch, sich wegen einer Todsünde nur zu schämen,
aber nicht das Beichtsakrament zu empfangen, um die heiligmachende Gnade
wiederzuerlangen. Es wäre kindisch, aus Scham oder irgend einem anderen
Grund vor dem Beichtvater eine Todsünde zu verheimlichen, denn damit
wäre die gesamte Beichte unwürdig und ungültig. Eine solche
bewusst unvollständige Beichte abzulegen, wäre selbst wieder
eine schwere Sünde. Mit mutiger Entschlossenheit muss man sich von
seinem sündigen Leben trennen.
Also verlangen wir wieder neu nach der geistigen, lauteren Milch. Trennen
wir uns von allem, was das geistige Wachstum hemmt oder verhindert, und
nähren wir uns durch "das lautere und unverfälschte Wort Gottes".
Amen.
S. auch:
Feiergebot und Fastengebot
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