Ernährung und Kirche
- Pressemitteilung: Übergewicht als moralisches Thema-
(Kirche zum Mitreden, 06.06.2010)
Rolf Hermann Lingen (der
Dünne) und Wolfgang Haas (der Andere), Chur 1993
Das Statistische Bundesamt teilte am 02.06.2010 mit, dass 51% der
Erwachsenen übergewichtig sind (Männer 60%, Frauen 43%;
1999: Männer 56%, Frauen 40%). Dafür zugrundegelegt wurde
der Body-Mass-Index (BMI: Körpergewicht geteilt durch das
Quadrat der Körpergröße - kg/qm), u.z. Werte
zwischen 20 und 25 als "Normalgewicht". Tatsächlich ist der BMI
aber oft nichtssagend bis irreführend. Viel interessanter sind
Körperfettanteil und v.a. Körperfettverteilung und die
daraus resultierenden Werte wie a) der Taille-Hüfte-Quotient
(waist-to-hip-ratio, WHR) und v.a. b) das
Taille-zu-Höhe-Verhältnis (waist-to-height-ratio, WHtR).
Eigentlich wird für sehr viele eher ein Gewicht im Bereich
zwischen BMI 24 und (möglichst nah an) 21,6 erstrebenswert
sein, d.h. orientiert am neueren Broca-Index für Normalgewicht
(Körpergröße in cm multipliziert mit 0,85, abzgl.
75) und Idealgewicht (Normalgewicht abzgl. 10%). Im früheren
Broca-Index wurde das Normalgewicht berechnet:
Körpergröße in cm minus 100 (ca. BMI 25).
Statististische Werte zu Lebenserwartung und Krankheitsvorkommen bei
bestimmten BMI-Werten tragen logischerweise den Makel der bereits an
sich unzulänglichen BMI-Werte weiter. Persönliche
Leistungsfähigkeit sollte eigentlich am meisten zählen.
Somit ist die Übergewichts-Statistik noch arg geschönt -
das Problem ist viel schwerwiegender.
Im Kern ist die Übergewichts-Problematik allerdings ein
moralisches und somit in gewisser Weise auch ein kirchliches Thema:
Es geht um die Motivation beim Schlankheitswunsch. Die gängigen
Motive wie Gesundheit, Wohlbefinden, Aussehen, Beruf usw. sind ja
anscheinend für viele unzureichend, d.h. die Essenslust (oder
der Magerwahn) ist stärker. Die Frage nach der "erfolgreichsten
Diät" ist ebenfalls arg nebensächlich, denn letztlich
zählt doch die Energiebilanz (Deckung des Kalorienbedarfs). Und
praktisch alle Ernährungsempfehlungen kommen immerhin darin
überein, dass sog. "leere Kalorien" (Zucker) zu meiden sind.
Also in Wahrheit geht es um Disziplin, um ein stetes kontrolliertes
Einhalten der für die eigene Leistungsfähigkeit
förderlichen Ernährung.
Aus christlicher Sicht soll jede Handlung verantwortungsvoll sein,
d.h. im Bewusstsein geschehen, dass man sich für jede Handlung
vor Gott verantworten muss: "Mögt ihr also essen oder trinken
oder sonst etwas tun, so tut alles zur Ehre Gottes" (1 Kor. 10,31).
Geistliche Übung (Askese) findet auch im richtigen
Maßhalten bei Speis und Trank ihren Ausdruck. In der
Fastenzeit heißt es im Vorgebet (Präfation) zum
Messkanon: "Durch das Fasten des Leibes unterdrückst Du die
Sünde, erhebst Du den Geist, spendest Tugendkraft und Lohn".
Viele Heilige haben äußerst lange und äußerst
streng gefastet. Zugegeben, heute macht man sich schnell unbeliebt
oder sogar strafbar, wenn man noch auf moralische Werte hinweist:
Man denke z.B. an die Anfeindungen und
Strafprozesse gegen Lebensschützer. Der Begriff
"Verantwortung" wird als "moralinsauer" verurteilt, und eine
"Verantwortung vor Gott" darf gleich gar nicht geltend gemacht
werden. Wohin jedoch das Ausweichen auf Hilfsmotivationen wie
Gesundheit usw. führt, sieht man sogar am wachsenden
Bauchumfang. Aus kirchlicher Sicht sind solche Hilfsmotivationen
eigentlich nicht unbedingt verwerflich: Sie können den Menschen
durchaus legitimerweise darin bestärken, verantwortungsvoll zu
handeln, sie können also insofern wertvoll sein und
tugendgemäß genutzt werden.
Zudem besteht heute in Deutschland schwerlich für alle
Übergewichtigen ein gewichtiger Grund - oder eine
Entschuldigung - für ihren Körperzustand: Man weiß
heute viel mehr über Ernährung als noch zur Zeit des hl.
Thomas von Aquin (1225-1274), trotz gelegentlicher Debatten um
abwegige Ideologien wie "Atkins"
(kohlenhydratarme Ernährung / "low carb") oder um
"Crash-Diäten" (vermeintlich hoher Körperfettverlust in
wenigen Tagen durch extremen Nahrungsverzicht). Und es ist heute in
jeder Hinsicht sehr viel einfacher, im besten Sinne des Wortes
"wohlgenährt" zu sein, als noch zur Zeit des hl. Thomas von
Aquin. Das jeweilige individuelle Idealgewicht sowie die jeweilige
optimale Versorgung mit Kohlenhydraten, Fett, Protein, Vitaminen und
Mineralstoffen ist für viele oft problemlos selbst bei recht
geringem zeitlichen und finanziellen Aufwand zu erreichen.
Zugegeben, konkrete Ernährungspläne hat die Kirche nicht
herausgegeben; diese sind schließlich Gegenstand der freien
Forschung. Diesbzgl. eine Anmerkung zur Benediktinerin Hildegard von
Bingen (1098-1179): Hildegard besaß unbestreitbar
überragende Bildung und tiefe Erkenntnisse. Hildegard zog als
"Geistesverwandte des hl. Bernhard [von Clairvaux], durch West- und
Süddeutschland, Klerus und Volk Buße predigend."
Hildegard "wurde von Königen, Fürsten, Bischöfen,
Ordensleuten und Laien um Rat und Hilfe gefragt. [...] Sie ist die
erste schriftstellerische Ärztin der Deutschen und
Begründerin der wissenschaftlichen Naturgeschichte in
Deutschland" (O. Wimmer, Handbuch der Namen und Heiligen, Innsbruck
1956, 236). Hildegard wurde von der Kirche nicht ausdrücklich
heiliggesprochen (kanonisiert), auch wenn sie im liturgischen
Festkalender auftaucht (17.09.). Und selbst mit einer feierlichen
Heiligsprechung wird nicht jedes Wort des Heiliggesprochenen zur
unfehlbaren Lehre erklärt. Und wenn schon nicht jede
theologische Aussage eines Heiligen automatisch als unfehlbar gilt,
dann kann man erst recht nicht den Äußerungen Hildegards
bzgl. Medizin und Ernährung Unfehlbarkeit zumessen. Einige von
Hildegards Ansichten (z.B. die Empfehlung von Dinkel) scheinen
zutreffend, andere wiederum (z.B. die Ablehnung von Tomaten)
scheinen unzutreffend zu sein. Also: Man darf sich bzgl. der Medizin
und Ernährung an soliden Forschungsergebnissen der Medizin und
Ernährung orientieren. Zudem darf man darauf vertrauen, dass
der Körper normalerweise einiges selbst regulieren kann, so
dass keine Veranlassung zu übergroßer Ängstlichkeit
hinsichtlich der gesunden Ernährung besteht. Kultischen Aufwand
um Ernährungsfragen zu betreiben, wäre ebenfalls
verantwortungslos und unchristlich.
S. auch:
Bulimie und Anorexie - Essstörungen
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