Die katholische Lehre über die Rechtfertigung

- Aus der Symbolik von J.A. Möhler -
(Kirche zum Mitreden, 01.11.1999)

Anläßlich der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" scheint es angebracht, eine kurze Zusammenstellung der katholischen Lehre zu dieser Frage im Internet zu veröffentlichen. Zur unfehlbaren kirchlichen Lehre über die Rechtfertigung gehören folgende Sätze (zit. nach Diekamp, Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, Zweiter Band, Münster (10)1952:


Die beiden Wesensstücke der Rechtfertigung (Diekamp 527-533)
I. Die Rechtfertigung ist nach ihrer negativen Seite keine bloße Nichtanrechnung und Zudeckung der Sünden, sondern ihre wahre Nachlassung und Austilgung.
II. Die Rechtfertigung ist nach ihrer positiven Seite keine bloß äußere Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern ein übernatürliche Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen.

Die Vorbereitung auf die Rechtfertigung, insbesondere der rechtfertigende Glaube (Diekamp 536-545)
I. Für die Erwachsenen ist eine Vorbereitung auf die Rechtfertigung notwendig.
II. Der erste unbedingt notwendige Akt der Vorbereitung ist der Glaube.
III. Der zur Rechtfertigung erforderliche Glaube besteht nicht in dem sogenannten Fiduzial- oder Spezialglabuen, sondern in dem festen Fürwahrhalten der göttlchen Offenbarungen und Verheißungen wegen der untrüglichen Autorität Gottes.
IV. Außer dem Glauben sind noch andere Akte der Vorbereitung auf die Rechtfertigung notwendig. Der Glaube allein rechtfertigt nicht.


Zum Beweis dieser Glaubenssätze lassen sich in Schrift und Tradition eindeutige Stellen anführen; da die Protestanten einräumen, sich nicht auf die Kirchenväter stützen zu können, und das Lehramt sowieso ablehnen, erwähnen wir hier nur einige Schriftstellen: Christus erklärt die Seinen für rein (Joh. 13,10; 15,3) und nennt die Rechtfertigung eine Wiedergeburt (Joh 3,5.8; 8,47). Christus fordert von den Sündern Umkehr und Buße (Mt 4,17; Nk 1,15; Lk 13,3.5). Christus betont die Notwendigkeit des Glaubens (Joh. 20,31). Christus und die Apostel haben ausdrücklich die Annahme der geoffenbarten Glaubenssätze als heilsnotwendig verlangt (Mk 16,16; Röm 6,17). Von den Sündern wird Reue und Buße verlangt (Lk 7,47), zum Glauben müssen gute Werke hinzukommen (Gal 5,6). Symptomatisch für die Selbstherrlichkeit Luthers und seiner Epigonen ist die Tatsache, daß diese die heilige Schrift ganz nach Belieben zurechtgestutzt, falsch übersetzt und sinnentstellend zitiert haben:
"Der eigentliche Erfinder der Solafides-Lehre war Martin Luther, welcher zur Beschwichtigung seiner eigenen Gewissensängste zum Zufluchtsmittel des "alleinseligmachenden Glaubens" griff und die "Werkheiligkeit" als pharisäisch und den Verdiensten Christ abträglich verwarf. Von ihm ging diese völlig neue Lehre in die symbolischen Bücher der Lutheraner über [...] Mit der Hl. Schrift trat Luther in offenen Widerspruch, wenn er Röm 3,28 durch Einschwärzung des Wörtchens "allein" fälschte und den Jakobusbrief als "ströherne Epistel" verwarf" (Pohle-Gierens, Lehrbuch der Dogmatik, II. Band, Paderborn (9)1937, 500.503).

Eine besondere Stellung unter den Schriften gegen die Phantastereien des Protestantismus nimmt die Symbolik von J.A. Möhler (6.5.1796-12.4. (Gründonnerstag) 1838) ein, auf die auch in Werken des 20. Jh. noch oft verwiesen wird. Wir haben Möhler auch schon bei KzM zitiert (Protestantische Angriffe gegen den Katholizismus). Sehr schön weist Möhler nach, daß sich das protestantische Lehrgebäude als ein widersprüchliches Hirngespinst ohne Sinn und Verstand zeigt, was allerdings nicht verwundern kann, wenn man die Gestalt Luthers näher kennt. Im folgenden einige Passagen aus diesem Standardwerk: J. A. Möhler, Symbolik (oder Darstellung der dogmatischen Gegensäze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften), hg. von F. X. Kiefl, Regensburg (11)1924. Die Orthographie wurde (jedenfalls nicht absichtlich) nicht den heutigen Regeln angepasst, d.h. statt "bloß" steht "blos", statt "samt" steht "sammt" etc.


[Aus dem Vorwort zur zehnten Auflage, geschrieben von F. X. Kiefl 1921]

"Daß ein im Jahre 1832 erschienenes Buch im Jahre 1921 die zehnte Auflage erlebt, ist ein einzigartiges literarisches Ereignis. Möhlers Symbolik ist ohne Zweifel jenes katholische Werk, welches die geistigen Wurzeln der Reformation am tiefsten aufgefaßt und zur Darstellung gebracht hat. Was aber dem Buche unvergänglichen Wert verleiht, ist neben seiner tiefen spekulativen Begründung seine eigentümliche Anlage. [...] Möhlers Werk hat seinen klassischen Wert behalten, weil es nicht mit einer einzelnen Phase der Bewegung sich befaßte, sondern mit deren erstem Ursprung aus dem Geiste Luthers und seiner Nachfolger. Was den Kern von Möhlers Symbolik ausmacht, ist seine tiefinnerliche Überzeugung von der Verderblichkeit des Zwiespaltes, welcher die Kirche Deutschalnds in zwei Hälften auseinandergerissen hat. Aus diesem Grunde geht er den Gegensätzen bis zu ihrer tiefesten spekulativen Wurzel nach und verschmäht es, dieselben zu verkleiden oder zu verhüllen, weil er mit Recht der Meinung ist, daß es nur dem Frieden dienen kann, wenn die Überzeugung gefördert wird, daß diese Lebensinteressen der Religion durch den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholismus verteidigt werden und daß, so viel Menschliches auch in der Entstehung der traurigen Spaltung mitgewirkt hat, doch die treibende Kraft das Bestreben war, die Wahrheit, das reine und ungetrübte Christentum festzuhalten.

[Aus S. 33-38] Die lutherische Lehre vom Urstande des Menschen.
Luther stellte keineswegs in Abrede, daß Adam positiv heilig und gercht gewesen sei; vielmehr kannte er die späteren negativen Vorstellungen von einer blosen Unschuld, von einer Indifferenz zwischen Gut und Bös nicht einmal, in welcher sich der paradiesische Mensch befunden haben soll, und war somit weit von jenen Behauptungen entfernt, welche die Lehre vom Sündenfalle zur Thorheit machen, und das Menschengeschlecht einen Ausgang nehmen lassen, der der nothwendige Eingang in die Verkehrtheit war, um der Durchgang zur selbstbewußten Rückker zu werden! [ FN: Eine Prüfung Adams war nothwendig, damit der Mensch sich selbst entscheiden und dadurch das Gute, das er bereits besaß, besonders aber seine Freiheit, zum vollkommenen Selbstbewußtseiten bringen möchte; aber keineswegs war der Fall nothwendig. Allerdings bewirkte nun auch der Fall diese Erhebung zum sellbstbewußten und freien Besitz des Wahren und Guten, weil durch Gottes Gnade selbst das Böse zur Beförderung des Guten dienen muß; aber die einfache Behauptung der Nothwendigkeit des Falles erhebt das Böse selbst zum Guten] Unglücklicher Weise verfielt er aber in andere Verirrungen, die in ihren Folgen betrachtet, die eben bezeichneten wenigstens aufwiegen.
Ueber die ursprüngliche Gerechtigkeit brachte Luther an sich keine neue, ihm eigenthümliche Ansicht in den Ideenumlauf seiner Zeit; er wählte nur aus dem rechen Vorrathe von Theorien, welche die fruchtbare Scholastik erzeugt hatte, die ihm besonders zusagende heraus, behandelte sie ziemlich ungeschickt, und verflocht sie in jener Gestalt, welche sie unter seinen Händen annahm, der Weise in sein ganzes Lehrgebäude, daß dieses ohne dieselbe gar nicht verstanden werden kann. Ihre Bedeutung im ganzen lutherischen Systeme wird sich daher auch erst weiter unten herausstellen. Gegen jene Theologen, die Adams Gottgefälligkeit eine übernatürliche nannten, behauptete Luther, sie sei eine natürliche; und im Gegensatz zu den Scholastikern, von welchen sie als ein Accidens [eine "zufällige", nicht notwendige Eigenschaft] aufgefaßt wurde, begriff er sie als ein Essentiale [eine "wesentliche", notwendige Eigenschaft] der menschlichen Natur, als einen die letztere mitconstituierenden, dieselbe integrierenden Bestandteil (esse de natura, de essentia hominis) [FN: Luther. in Genes. c. III. Op. ed. Jen. Tom. L p. 83. [...]]. Er wollte sagen, die reine aus dem Machtworte des Schöpfers hervorgegangene Natur des Menschen enthielt alle Bedingungen ihrer Gottgefällgkeit lediglich in sich selbst; durch die den verschiedenen einzelnen Theilen der Natur Adams einwohnende eigenste Kraft standen dieselben im schönsten Gleichgewichte unser sich und der ganze Mensch im rechten Verhältnisse zu Gott. Insbesondere blühte die religiöse Anlage des Urmenschen vermöge der ihr angeschaffenen Kraftfülle gottgefälligst auf, so daß er ohne jegliche übernatürliche Stütze Gotte wahrhaft erkannte, an ihn glaubte, ihn vollkommen liebte und heilig war. Die religiös sittliche Anlage Adams sammt ihrer lebendig heraustretenden Entfaltung nannten die Reformatoren das Bild Gottes, ohne zwischen Vermögen und dessen dem Willen Gottes entsprechenden Thätigkeitsäusserung eine Unterscheidung eintreten zu lassen. Dadurch, daß Adam die genannte Anlage hatte, war er auch wirlich religiös, wirklich gottesfürchtig, in Allem Gott und seinem Willen ergeben und vollkommen geeinigt mit ihm [FN: Apol. de. peccat. orig. §.7 p.56 [...]]. Die katholischen Theologen unterschieden dagegen zwischen dem Einen und dem Andern sehr genau, so zwar, daß sie, um den Unterschied recht zu fixieren, gewöhnlich nur die religiöse Anlage "das Bild Gottes" nannte, die gottgefällige Entwicklung derselben aber "Gottähnlichkeit" [Bellarm. de gat. prim. hom. c. II. l. c. p. 7. [...]] [...] Die zweite Hauptunterscheidung beider Bekenntnisse in dem vorliegenden Stücke bildet die Lehre von der Freiheit. Luther behauptetete nämlich und wollte diese Behauptung als Glaubenssatz festgehalten wissen, daß der Mensch keine Freiheit besitze, daß alles (vermeintlich) freie Handeln nur auf einem Scheine beruhe, daß eine unabweisbare göttliche Nothwendigkeit Alles beherrsche, und alles menschliche Thun im Grunde nur Gottesthat sei [FN: Luther de servo arbitrio adv. Eras. Roteror. Pool. ed. lat. Jen. Tom. III. f. 170 [...]] .

[Aus S. 53-65] Katholische Lehre von der Erbsünde
Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte der Religionsstreitigkeiten der drei letzten Jahrhunderte, daß die Reformatoren1, nach deren Grundsätzen Adam bei seinem Falle einer unwiderstehlichen Notwendigkeit, die über ihn ausgesprochen wurde, erlag, Gott über diese Tat des ersten Menschen, die eigentlich nach ihren Ansichten ein unbedingtes Leiden [d.h. Adam war dabei passiv, nicht aktiv] desselben genannt werden muß, in einen so furchtbaren Zorn ausbrechen und ein so erschreckliches Strafgericht halten lassen, daß es keine geringe Aufgabe ist, zu erklären, wie so unzusammenhängende Vorstellung in einem und demselben Kopfe verbunden werden konnten. Wenn der umfassende Ausdruck "die Reformatoren" gebraucht wird, so ist derselbe mit Bedacht gewählt; denn auch Luther und Melanchthon hatten ihre Theorie von der Erbsünde schon vollkommen ausgebildet, als beide noch ganz in die im vorigen Paragraphen beschriebenen Vorstellungen verstrickt waren, welche Zwingli und Calvin nur aufnahmen und weiter ausführten. Wie konnte Adam der Gegenstand eines so furchtbaren Zornes werden, wenn er tat, was es thun mußte, wenn er verübte, was er nicht unterlassen konnte [FN: Calvin. Institu. l. III. c. I. §. 4. fol. 77.]]? Daher denn auch eine Auffassung der Erbsünde von Seiten der Protestanten, welche beinahe nach allen Beziehungen hin, man verzeihe den Ausdruck, ohne Sinn und Verstand ist. Durch die ausschweifende Darstellung der Folgen der Sünde Adams scheinen sie das Sündengefühl und das Bewußtsein der Schuld wieder schärfen zu wollen, welches sie durch ihre Ansichten von dem Verhältnisse Gottes zum Bösen zu tilgen im Begriffe waren. Und doch verschlimmerten sie die Sache noch mehr, wie sich aus folgenden Darstellungen ergeben wird, die sich abermal zuerst mit den Grundsätzen der Synode von Trient beschäftigen.
Die Lehre der katholischen Kirche von der Sünde ist höchst einfach und läßt sich auf folgende Sätze zurückführen. Adam verlor durch die Sünde seine ursprüngliche Gerechtigkeit und Heiligkeit, zog sich durch seinen Ungehorsam das Mißfallen und die Strafgerichte Gottes zu, verfiel dem Tode, und wurde überhaupt in allen seinen Theilen, sowohl dem Leibe als auch der Seele nach, verschlimmert [FN: Concil. Trident. sess. V. decret. de peccat. orig. [..]]. Dieser sein sündhafter Zustand geht auf alle seine Nachkommen über zwar vermöge der Abstammung von ihm, mit der Folge, daß Niemand durch sich selbst im Stande ist, nicht einmal mit Hilfe des vollkommensten, ihm von außen dargebotenen Sittengesetzes, selbst nicht des im alten Bunde geoffenbarten, Gott wohlgefällig zu handeln, und in anderer Weise gerecht vor ihm zu werden, als allein durch das Verdienst Jesu Christi, des einzigen Mittlers zwischen Gott und den Menschen [FN: L. c. [...]]. Wird nun dem Gesagten noch hinzugefügt, daß die Väter von Trient die Freiheit, obwohl sie dieselbe als sehr geschwächt darstellen, doch den gefallenen Menschen noch beilegen [FN: Concil. Trident. sess. VI. c. V. [..]] und deshalb lehren, daß nicht alles religiös-sittliche Thun desselben notwendig Sünde, wenn gleichwohl auch nie aus sich und durch sich gottgefällig und irgend vollkommen sei [FN: L. c. VII. [..]], so haben wir alles und zwar in der symbolischen Form mitgeteilt, was streng als Kirchenlehre festzuhalten ist. Daß übrigens auch der gefallene Mensch noch Träger des Bildes Gottes sei (§ 1), ergibt sich aus dem Gesagten von selbst [Bellarmin. de gratia primi hom. c. II. [...]].

[Aus S. 66-81] Lehre der Lutheraner von der Erbsünde
Nach der lutherischen Orthodoxie verlor also der Mensch durch Adams Fall, um uns noch einmal kurz und umfassend auszudrücken, den höchsten und feinsten Theil seines geistigen Wesens, die gottverwandte Substanz derselben, das anerschaffene zu seiner Natur gehörige Organ für Gott und die göttlichen Dinge, so daß der Mensch nach dessen Verlust zu einer blos irdischen Weltkraft herabsank, und nur mehr Organe für die endliche Welt, ihre Gesetze, Ordnungen und Beziehungen hatte.
Ist es schlechterdings undenkbar, wie aus dem Organismus des menschlichen Geistes ein Glied herausgenommen und vertilgt werden könne; wie ein Vermögen einer einfachen Wesenheit, die nicht aus Theilen zusammengesetzt ist, deren Vermögen nur für die Wissenschaft auseinander gehalten werden, indem an sich Eines in Allen und Alle in Einem sind, solle von allen übrigen abgelöst und vernichtet werden mögen, so ist hiemit das Unbegreifliche in der lutherischen Vorstellung von der Erbsünde noch nicht erschöpft [FN: Beza Quaest. et Resp. p. 45. [...]]. Von dem Positiven, das an die Stelle des Entzogenen trat, ist eben so wenig eine Vorstellung möglich. Luther stellt in seinem Kommentaren über die Genesis, zum dritten Capital derselben, eine Vergleichung zwischen der Erbsünde und der ursprünglichen Gerechtigkeit, und zieht aus der Essentialität der Erbsünde Schlüsse auf die Essentialität der ursprünglichen Gerechtigkeit [FN: Luth. in Genes. c.. III. [...]]! Ist demnach Luthern die ursprüngliche Gerechtigkeit das Vermögen, Gott zu lieben und zu erkennen, so wäre ihm die Erbsünde das Vermögen, Gott nicht zu lieben und nicht zu erkennen, oder vielmehr ihn zu hassen, und im Finstern über ihn zu sein! Es ist dies ungefähr dasselbe, wie wenn man sagen wollte, jemand besitze das Vermögen, nicht nur kein Vermögen, sondern überdies noch Schulden zu haben. Luthern war es mithin nicht nur ausgemacht, daß durch Adams Fall das gesamte Menschengeschlecht einen integrirenden Theil seines geistigen Wesens verloren habe, sondern auch, daß im Menschen ein entgegengesetztes Wesenhaftes dafür eingetreten sei; und dies letztere war ihm in dem Grade über allem Zweifel erhaben, daß er aus demselben, als einem schlechthin Unbestreitbaren, gleichsam an sich Gewissen, ganz unbedenklich weitere Folgerungen zieht! Ist es unbegreiflich, wie das Bild Gottes aus dem menschlichen Geiste mit der Wurzel ausgerottet werden konnte, so ist es nun noch unbegreiflicher, wie eine neue Essenz in den Geist eingefügt werden mochte! Und aus dem Bösen etwas Wesenhaftes machen! Mit den Gnostikern und Manichäern waren dergleichen Vorstellungen nach unsäglicher Anstrengung der Kirche beinahe durchgängig verschwunden, und nun tauchten sie so mächtig und so voll Anmaßung abermals auf.
Das Wesenhafte, das Luther in der Erbsünde fand, setzte sich übrigens nach ihm im Geist und Leib des Menschen an. Folgende Stellen, die sich bei ihm in verschiedenen Büchern finden, mögen als Beweise für das eben Gesagten dienen, wie sie denn überhaupt die Beschaffenheit seiner Vorstellungen über diesen Gegenstand außer Zweifel setzen. Seine Ausdrücke sind: Sündigen sei die Natur des Menschen, Sünde sei die Wesenheit des Menschen, die Natur des Menschen sei nach dem Fall eine andere geworden, die Erbsünde sei eben Das, was aus Vater und Mutter geboren wird (gleichbedeutend sind die Formeln: der Leim, aus dem wir gebildet werden, sei verdammlich, der Fötus im Mutterleibe sei Sünde); auch sagt er: "der Mensch, wie er von Vater und Mutter geboren ist, mit seiner ganzen Natur und Wesen, sei nicht nur Sünder, sondern die Sünde selbst" [Quenstedt theologia didactico-polemica. Wittenberg. 1669 P. II. p. 134-135. [...]].

[Aus S. 99-103] Allgemeine Darstellung der Weise, in welcher der Mensch nach den verschiedenen Confessionen gerechtfertigt wird.
Die Verschiedenheit der Auffassung des Falles der Menschheit ist begreiflich von dem entscheidenden Einfluß auf die Lehre von der Erhebung aus dem Falle. Die Behandlung dieser Lehre aber wird für uns um so wichtiger, und nimmt alle Aufmerksamkeit um so mehr in Anspruch, als die Reformatoren gerade in der vermeintlichen Verbesserung der katholischen Betrachtungsweise von der Rechtfertigung des Menschen ihr Hauptverdienst suchten, was besonders die Schmalkaldischen Artikel hervorheben. Sie nennen diesen Gegenstand nicht nur den ersten und wichtigsten, sondern auch denjenigen, ohne dessen Bestand die Widersager des Protestantismus vollkommen Recht hätten und siegreich aus dem Streit hervorgingen [FN: Pars II. §. 1 cf. Solid. Declar. III. p. 653.]]. Übereinstimmend hiermit sagt Luther in seinen Tischreden ganz kurz und bündig: "fällt aber die Lehre, so ist es mit uns gar aus."
Nach dem Concilium von Trient verhält es sich also: Der von Gott entfernte Sünder wird, ohne irgend ein Verdienst aufweisen, d. h. ohne irgend einen Anspruch auf Begnadigung, auf verzeihende Barmherzigkeit machen zu können, zum göttlichen Reiche zurückgerufen [FN: Concil. Trident. Sess. VI. c. 5. [..]]. Der göttliche, an ihn um Christi willen ergehende Ruf spricht sich nicht blos durch die äußere Einladung mittels der Verkündigung des Evangelium aus, sondern zugleich durch eine innere Thätigkeit des heiligen Geistes, der die schlummernden Kräfte des mehr oder weniger in sittlichen Todesschlaf verfallenen Menschen erweckt, und denselben antreibt, sich mit der Kraft von Oben zu verbinden, um eine entgegengesetzte Lebensrichtung zu gewinnen und die Gemeinschaft mit Gott zu erneuern, (zuvorkommende Gnade). Hört der Sünder auf den an ihn ergangenen Ruf, so ist der Glaube an Gottes Wort die erste Folge der in genannter Weise zusammen wirkenden göttlichen und menschlichen Tätigkeit. Der Sünder vernimmt das Dasein einer höheren Weltordnung, und mit voller, früher nie geahnter Gewißheit ist er von derselben überzeugt. Die höheren Wahrheiten und Verheißungen, die er wahrnimmt, insbesondere die Kunde, Gott habe so sehr die Welt geliebt, daß er seinen Eingebornen für sie dahingab, und Allen Vergebung des Sünde um der Verdienste Christi willen anbiete, erschüttern den Sünder. Indem er, Was er ist, mit Dem vergleicht, was er nach dem geoffenbarten Willen Gottes sein soll; indem er erfährt, so groß sei die Sünde und das Verderben der Welt, daß es nur durch die Dazwischenkunft des Sohnes Gottes getilgt werden könne, gelangt er zur wahren Selbstkenntnis, und wird zugleich mit Furcht vor der Strafgerechtigkeit Gottes erfüllt. Er wendet sich nun an die göttliche Barmherzigkeit in Christo Jesu, und faßt die vertrauensvolle Hoffnung, daß auch ihn um der Verdienste des Erlöses willen Gottes Huld und Vergebung der Sünde zu Theil werden möge.
Aus demselben Blicke auf die unendliche Menschenfreundlichkeit Gottes entzündet sich in der Brust des Menschen ein Funke göttlicher Liebe, der Haß und derAbscheu gegen die Sünde erwachen, und der Mensch thut Buße [FN: L. c. c. 6. [...]]. So wird durch die ineinanderwirkende Thätigkeit des heiligen Geistes und des mit Freiheit sich ergebenden Menschen die eigentliche Rechtfertigung eingeleitet. Bleibt nämlich dieser dem begonnenen heiligen Werke treu, so theilt sich nun der göttliche Geist, heiligend und sündenvergebend zugleich in seinerFülle mit, und gießt die Liebe Gottes in das Herz des Menschen aus, so daß dieser von der Sünde in ihrer tiefsten Wurzel befreit und innerlich erneuert wird, ein neues, gottgefälliges Leben lebt, d. h. vor Gott wirklich gerecht ist, wahrhaft gute Werke, als Früchte des erneuerten Geistes, der geheiligten Gesinnung wirkt, von Gerechtigkeit zu Gerechtigkeit fortschreitet, und in der Folge seiner jetzigen durch die Verdienste Christi und dessen Geist erworbenen religiös-sittlichen Beschaffenheit der himmlischen Sinnlichkeit theilhaftig wird [FN: L. c. c. 6. [...]]. Jedoch erfreut sich auch der Gerechte ohne besondere Offenbarung der schlechterdings untrüglichen Gewißheit nicht, daß er unter die Auserwählten gehöre.
Die lutherische Betrachtungsweise hingegen ist diese: Wenn der Sünder durch die Predigt des Gesetzes, dessen Nichterfüllung sich ein jeder bewußt ist, eingeschüchtert und der Verzweiflung nahe gebracht ist, wird ihm das Evangelium verkündet, und in demselben der Trost, daß Christus das Lamm Gottes sei, daß die Sünden der Welt trägt. Mit einem von Schrecken und Furcht erfüllten Herzen ergreift er die Verdienste des Erlöses durch den Glauben, der allein gerecht macht. Gott erklärt den Gläubigen um der Verdienste Christi willen für gerecht, ohne daß er es in der That ist; obschon freigesprochen von der Schuld und Strafe, wird er doch von der Sünde (Erbsünde) nicht befreit; die angeborne Sündhaftigkeit bleibt vielmehr auch im Gerechten, obwohl nicht mehr in ihrer alten Kraft. Ist es nämlich dem Glauben vorbehalten, allein vor Gott gerecht zu machen, so ist er doch nicht allein; vielmehr schließt sich an die Rechtfertigung die Heiligung an, und der Glaube offenbart sich in guten Werken, die seine Früchte sind. Die Rechtfertigung vor Gott und die Heiligung dürfen jedoch, ungeachtet ihrer engen Verbindung, durchaus nicht als Eins und Dasselbe betrachtet werden, weil dies die Gewißheit der Sündenvergebung und Seligkeit, eine Gewißheit, die eine wesentliche Eigenschaft des christlichen Glaubens ist, unmöglich machte. Das ganze Werk der Wiedergeburt ist endlich Gottes That allein, und der Mensch verhält sich schlechthin leidend dabei. Gottes That geht nicht nur dem Thun des Menschen voran, als müßte oder könnte dieser nachkommen, als wirkte dieser mit jenem und sonach Beide zusammen; der heilige Geist ist vielmehr ausschließend thätig, auf daß Gott allein der Ruhm zukomme, und jede Anmaßung menschlichen Verdienstes unmöglich werde [FN: Solid. Declar. V. de lege et Evangel. §. 6. p. 678. [...]].

[Aus 105-116] Von dem Verhältnisse der Thätigkeit Gottes zu der des Menschen bei der Wiedergeburt nach dem katholischen und lutherischen Systeme.
Nach den katholischen Grundsätzen treffen im heiligen Werke der Wiedergeburt zwei Thätigkeiten zusammen, die göttliche und die menschliche und durchdringen sich, wenn dasselbe gelingt; so daß es ein gottmenschliches Werk ist. Gottes heilige Kraft geht erregend, erweckend und belebend voran, ohne daß jedoch der Mensch dieselbe verdienen, oder herbeirufen, oder ersehnen könnte; aber der Mensch muß sich aufregen lassen und mit Freiheit folgen [FN: Concil. Trident. Sess. VI. c. V. [...]]. Gott bietet seine Hilfe an, um vom Falle zu erheben, aber der Sünder muß einwilligen, und dieselbe in sich aufnehmen; sie aufnehmend wird er vom göttlichen Geiste aufgenommen und allmählig, wenn auch in diesem Leben niemals vollkommen, durch treues Mitwirken zu jener Höhe wieder emporgebracht, von der er herabgestürzt ist. Gottes Geist wirkt nicht absolut nöthigend, obschon er dringend thätig ist; seine Allmacht setzt sich an der menschlichen Freiheit selbst eine Schranke, die sie nicht durchbrechen will, weil ein unbedingtes Eindringen in dieselbe eine Vernichtung der moralischen Weltordnung herbeiführte, welche die ewige Weisheit auf die Freiheit gegründet hatte. Mit Recht und ganz ihrem tiefsten Wesen gemäß hat demnach auch die katholische Kirche den Jansenistisch-Quesnell´schen Satz verworfen, daß der Allmacht Gottes die menschliche Freiheit weichen müßte [FN: Constit. Innocent. Pap. X. ap. Hard. Concil. Tom. XI. fol. 143. [...]]; ein Satz, der unmittelbar die Lehre von einer ganz unbedingten Vorherbestimmung Gottes zur Folge hat, und von jenen, die nicht zur Wiedergeburt gelangen, aussagt, daß sie sich nicht selbst verworfen haben, sondern von Gott schlechthin verworfen würden, da die Berührung derselben durch Gottes Geist auch ihre Freiheit zum Glauben und zum heiligen Gehorsam würde bestimmt haben.
Es ist unschwer einzusehen, daß diese vorgelegte Lehre der katholischen Kirche durch ihre Betrachtungsweise der Erbsünde bedingt sei; denn hätte sie eine völlige Vertilgung aller guten Keime und eine Vernichtung der Freiheit des Menschen durch den Fall behauptet, so könnte sie auch von keiner Mitwirkung derselben, von keinen Kräften in ihm, die angeregt, neubelebt und unterstützt werden sollten, sprechen. Der Mensch, der aller Verwandtschaft und alles Ebenbildlich mit Gott verloren hätte, wäre nicht einmal mehr fähig, Gottes Einwirkung zur Vollziehung einer Wiedergeburt aufzunehmen, da die göttliche Thätigkeit keinen Anklang mehr finden würde, so wenig, als in einem vernunftlosen Tiere.
Umgekehrt leuchtet nun auch aus der lutherischen Darstellung von der Erbsünde ein, daß die Lutheraner keine Mitwirkung des Menschen annehmen können, und zugleich, warum sie nicht können; deshalb nämlich nicht, weil nach ihnen das Erbübel in einer Vernichtung des Gottebenbildlichen im Menschen besteht, welches gerade das Vermögen ist, das mit Gott wirken kann. Demnach wird gelehrt, der Mensch verhalte sich ganz passiv, und Gott sei ausschließend thätig. Schon auf der berühmten Disputation zu Leipzig verteidigte Luther gegen Eck diese Lehre, und verglich den Menschen mit einer Säge, die sich in der Hand des Werkmeisters leidend müsse hin und her bewegen lassen. Späterhin gefiel er sich in den Vergleichungen des gefallenen Menschen mit einer Salzsäule, einem Klotze, einem Erdkloße, der auch nicht fähig sei mit Gott zu wirken [FN: Luther. in Genes. c. XIX. [...]].

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