Syllabus

- Aus den Lehrschreiben von Pius IX. und Pius X. -
(Kirche zum Mitreden, 13.07.2000)
[PRHL] Am 08.12.1864 veröffentlichte Papst Pius IX. die Enzyklika "Quanta cura", in der er einige weit verbreitete Irrlehren verschiedener Art verurteilt. Dieser Enzyklika fügte er noch einen "Syllabus" (Sammlung, Verzeichnis; DS 2901-2980) hinzu mit Irrlehren, die in verschiedenen früheren Schreiben verurteilt worden waren.
Im Modernismus-Streit hat dann das Heilige Offizium (wurde von der V2-Sekte abgeschafft; als Pseudo-"Ersatz" gibt es dort die "Kongregation für die Glaubenslehre") am 03.07.1907 eine Sammlung modernistischer Irrtümer zusammengestellt in dem Dekret "Lamentabili" (DS 3401-3466), welches auch im Antimodernisteneid Erwähnung findet. Dieses Dekret wird bisweilen als "Syllabus Pius X." bezeichnet. Pius X. betonte in dem Motu proprio "Praestantia Scripturae", dass die Verteidigung eines in "Lamentabili" oder in der Enzyklika "Pascendi" verurteilten Satzes die automatisch eintretende Exkommunikation zur Folge hat.

Beispielsweise vergleiche man den Text des Dogmas:
"Wer sagt, es sei möglich, daß man den von der Kirche vorgelegten Glaubenssätzen entsprechend dem Fortschritt der Wissenschaft gelegentlich einen anderen Sinn beilegen müsse als den, den die Kirche verstanden hat und versteht, der sei ausgeschlossen" (NR 61, cf. DS 3043),
mit den Sätzen, die von Pius IX.:
"5. Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher einem fortwährenden und unbegrenzten Fortschritt unterworfen, der dem Fortschreiten der menschlichen Vernunft entspricht",
und Pius X. verworfen wurden:
"64.) Der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, daß die Auffassungen der christlichen Lehre von Gott, Schöpfung, Offenbarung, Person des Fleischgewordenen Wortes, Erlösung reformiert werden."

Vergleicht man die von der Kirche verurteilten Sätze z.B. mit der deutschen Verfassung und mit der Religionsdiktatur in Deutschland (deutlich etwa im Herz-Jesu-Urteil, dem "Meisterstück" der Sozietät Redeker), dann besteht kein Grund zu einem übertriebenen Optimismus bzgl. der Wohlfahrt des deutschen Staates. In gewisser Weise kann man sagen, dass die verurteilten Sätze noch Gegenstand der heutigen "theologischen Ausbildung" an den "katholischen Fakultäten" sind - nur eben werden diese Sätze nicht als falsch, sondern als richtig hingestellt.

Diese deutschen Texte sind der Schriftenreihe "Freude an der Wahrheit" (Nr. 52 und Nr. 14) von Karl Haselböck entnommen, die Überschriften zu "Lamentabili" stehen im Denzinger; die im Syllabus angegebenen Verweise auf die entsprechenden lehramtlichen Quellen sind eher von wissenschaftlichem Interesse und werden hier nicht wiedergegeben, d.h. der Syllabus ist hier ein klein wenig gekürzt zitiert. Da Haselböck versichert, authentische kirchliche Übersetzungen wiederzugeben, halten wir es für ausgeschlossen, dass wir hier ein Copyright verletzen.
An dieser Stelle erklären wir ausdrücklich, dass wir Haselböcks Wirken nicht gutheißen und nicht unterstützen. Ein Beispiel: Haselböck verkündete das "Dogma": "Wer sagt, ... man dürfe die Messe in der bloßen Volkssprache feiern, ... der sei (aus der Kirche) ausgeschlossen" (FadW Nr. 4); das kirchliche Anathem lautet aber: "Si quis dixerit, [...] lingua tantum vulgari Missam celebrari debere, [...] an. s." [Wer sagt, die Messe müsse ausschließlich in der Volkssprache zelebriert werden, der sei ausgeschlossen] (DS 1759); s. auch Die Indultszene. In FadW Nr. 16 fordert Haselböck sogar: "Stehen wir getreu hinter Erzbischof Marcel Lefebvre, unserem gemeinsamen geistlichen Vater". Das braucht man jetzt nicht mehr zu kommentieren. Damit zu den Texten:


Syllabus Pius IX.

§ l. Pantheismus, Naturalismus und absoluter Rationalismus.
1. Es gibt kein höchstes, allweises und allvorsehendes von dieser Gesamtheit der Dinge unterschiedenes göttliches Wesen, und Gott ist eins mit der Natur, daher dem Wechsel unterworfen, und Gott wird in der Tat im Menschen und in der Welt. Alles ist Gott und hat das eigentliche Wesen Gottes; und Eines und dasselbe ist Gott mit der Welt, daher auch der Geist mit der Materie, die Notwendigkeit mit der Freiheit, das Wahre mit dem Falschen, das Gute mit dem Bösen, das Gerechte mit dem Ungerechten.
2. Jede Einwirkung Gottes auf die Menschen und die Welt ist zu leugnen.
3. Die menschliche Vernunft ist ohne alle Rücksicht auf Gott der einzige Schiedsrichter über wahr und falsch, gut und böse; sie ist sich selbst Gesetz und reicht mit ihren natürlichen Kräften hin, für das Wohl der Menschen und der Völker zu sorgen.
4. Alle Wahrheiten der Religion fließen aus der natürlichen Kraft der menschlichen Vernunft; daher ist die Vernunft die vorzüglichste Norm, durch welche der Mensch die Erkenntnis aller Wahrheiten jeglicher Art erlangen kann und soll.
5. Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher einem fortwährenden und unbegrenzten Fortschritt unterworfen, der dem Fortschreiten der menschlichen Vernunft entspricht.
6. Der christliche Glaube widerstrebt der menschlichen Vernunft und die göttliche Offenbarung nützt nicht allein nichts, sondern sie schadet auch der Vervollkommung des Menschen.
7. Die in der Heiligen Schrift berichteten und erzählten Prophezeiungen und Wunder sind Erfindungen der Dichter, und die Geheimnisses des christlichen Glaubens die Summe philosophischer Forschungen; und in den Büchern beider Testamente sind mythische Erfindungen enthalten; und Jesus Christus selbst ist eine mythische Erdichtung.

§ II. Gemäßigter Rationalismus.
8. Da die menschliche Vernunft der Religion selbst gleichzustellen ist, darum sind die theologischen Disziplinen gerade ebenso wie die philosophischen zu behandeln.
9. Alle Dogmen der christlichen Religion ohne Unterschied sind Gegenstand der natürlichen Wissenschaft oder der Philosophie: und die bloß historisch gebildete menschliche Vernunft kann aus ihren natürlichen Kräften und Prinzipien zu der wahren Erkenntnis in Betreff aller, auch der dunkelsten Dogmen gelangen, wenn nur diese Dogmen der Vernunft selbst als Gegenstand vorgelegt gewesen sind.
10. Da etwas anderes der Philosoph und etwas anderes die Philosophie ist, so hat jener das Recht und die Pflicht, sich der Autorität, welche er für die wahre erkannt hat, zu unterwerfen; aber die Philosophie kann und darf nicht sich irgendeiner Autorität unterwerfen.
11. Die Kirche darf sich nicht allein gegen keine Philosophie wenden, sondern muß auch die Irrtümer dieser Philosophie dulden und es ihr überlassen, daß sie sich selbst verbessere.
12. Die Dekrete des Apostolischen Stuhles und der römischen Kongregationen hindern den freien Fortschritt der Wissenschaft.
13. Die Methode und die Prinzipien, nach welchen die alten scholastischen Lehrer die Theologie ausgebildet haben, stimmen mit den Bedürfnissen unserer Zeit und mit dem Fortschritte der Wissenschaften keineswegs überein
14. Die Philosophie muß behandelt werden ohne Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung.

§ III. Indifferentismus, Latitudinarismus.
15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche jemand, durch das Licht der Vernunft geführt, für die wahre hält.
16. Die Menschen können bei der Übung jedweder Religion den Weg des ewigen Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen.
17. Wenigstens darf wohl auf die ewige Seligkeit aller jener gehofft werden, welche in der wahren Kirche Christi keineswegs leben.
18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form derselben wahren christlichen Religion, in welcher es ebenso gut, als in der katholischen Kirche gegeben ist, Gott wohlgefällig zu sein.

§ IV. Sozialismus, Kommunismus, geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine.

§ V. Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte.
19. Die Kirche ist nicht eine wahre und vollkommene, völlig freie Gesellschaft und steht nicht auf ihren eigenen und beständigen, von ihrem göttlichen Stifter ihr verliehenen Rechten, sondern es ist Sache der Staatsgewalt, zu bestimmen, welches die Rechte der Kirche und welches die Schranken seien, innerhalb der sie diese Rechte ausüben könne.
20. Die Kirchengewalt darf ihre Autorität nicht ohne Erlaubnis und Zustimmung der Staatsgewalt ausüben.
21. Die Kirche hat nicht die Macht, dogmatisch zu entscheiden, daß die Religion der katholischen Kirche die einzig wahre Religion sei.
22. Die Verpflichtung, welche katholische Lehrer und Schriftsteller durchaus bindet, ist nur auf das beschränkt, was von dem unfehlbaren Ausspruch der Kirche als Glaubenssatz für alle zu glauben vorgestellt wird.
23. Die Römischen Päpste und die Allgemeinen Konzilien haben die Grenzen ihrer Gewalt überschritten, Rechte der Fürsten usurpiert und auch in Festsetzung der Glaubens- und Sittenlehren geirrt.
24. Die Kirche hat nicht Macht, äußeren Zwang anzuwenden, noch irgend eine zeitliche direkte oder indirekte Gewalt.
25. Außer der dem Episkopat inhärierenden Gewalt ist ihm eine andere zeitliche Gewalt von der weltlichen Regierung entweder ausdrücklich oder stillschweigend verliehen und daher von der Staatsregierung nach Belieben zurückzunehmen.
26. Die Kirche hat kein angeborenes und legitimes Recht auf Erwerb und Besitz.
27. Die geweihten Diener der Kirche und der Römische Papst selbst sind von aller Leitung und Herrschaft über weltliche Dinge durchwegs auszuschließen.
28. Die Bischöfe dürfen ohne Erlaubnis der Staatsregierung nicht einmal apostolische Schreiben veröffentlichen.
29. Die vom Papst verliehenen Gnaden müssen für ungültig angesehen werden, wenn sie nicht durch die Staatsregierung nachgesucht worden sind.
30. Die Immunität der Kirche und der kirchlichen Personen hatte ihren Ursprung vom Zivilrecht.
31. Die geistliche Gerichtsbarkeit für zeitliche Zivil- wie Kriminal-Angelegenheiten der Geistlichen ist durchaus abzuschaffen, auch ohne Befragen und gegen den Einspruch des Apostolischen Stuhles.
32. Ohne alle Verletzung des natürlichen Rechtes und der Billigkeit kann die persönliche Befreiung der Kleriker vom Militärdienst abgeschafft werden, und diese Abschaffung verlangt sogar der staatliche Fortschritt namentlich in einer nach der Form einer freieren Regierung eingerichteten Gesellschaft.
33. Es gehört nicht einzig zur kirchlichen Jurisdiktionsgewalt, aus eigenem angeborenem Rechte die theologischen Studien zu leiten.
34. Die Lehre, welche den Römischen Papst einem freien und in der ganzen Kirche seine Macht ausübenden Fürsten vergleicht, ist eine Lehre, die im Mittelalter vorherrschte.
35. Nichts verbietet, durch Beschluß eines Allgemeinen Konzils oder durch die Tat aller Völker das Pontifikat von dem Römischen Bischof und von Rom auf einen anderen Bischof und eine andere Stadt zu übertragen.
36. Die Entscheidung eines National-Konzils läßt keine weitere Erörterung zu, und die Staatsregierung kann eine Sache bis zu dieser Entscheidung bringen.
37. Es können Nationalkirchen errichtet werden, welcher der Autorität des Römischen Papstes entzogen und von ihr völlig getrennt sind.
38. Zur Trennung der Kirche in eine morgenländische und abendländische hat die übermäßige Willkür der Römischen Päpste beigetragen.

§ VI. Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft sowohl an sich, als in ihren Beziehungen zur Kirche.
39. Der Staat besitzt als der Ursprung und die Quelle aller Rechte ein schrankenloses Recht.
40. Die Lehre der katholischen Kirche ist dem Wohl und Vorteil der menschlichen Gesellschaft zuwider.
41. Die Staatsgewalt hat, selbst wenn sie von einem ungläubigen Fürsten ausgeübt wird, ein indirektes, negatives Recht in religiösen Dingen; sie hat also nicht nur das Recht des 'Exequatur', sondern auch das der 'appellatio', welche 'ab abusu' genannt wird. (= der Berufung gegen kirchliche Verfügungen an staatliche Behörden wegen angeblichen Mißbrauchs der kirchlichen Gewalt)
42. Im Konflikt der Gesetze beider Gewalten geht das weltliche Recht vor.
43. Die Laien-Gewalt hat die Macht, feierliche Verträge (vulgo Konkordate), die über die Ausübung der zur kirchlichen Immunität gehörigen Rechte mit dem Heiligen Stuhle geschlossen wurden, ohne dessen Einwilligung, ja sogar gegen seinen Widerspruch zu beschränken, für nichtig zu erklären und außer Kraft zu setzen.
44. Die Staatsgewalt kann sich in Sachen der Religion, der Sittenzucht und des geistlichen Regiments mischen. Sie kann also über die Weisungen urteilen, welche die Hirten der Kirche ihrem Amte gemäß zur Norm der Gewissen erlassen, und kann sogar über die Verwaltung der heiligen Sakramente und über die zu deren Empfang nötigen Dispositionen entscheiden.
45. Die ganze Leitung der öffentlichen Schulen, in denen die Jugend eines christlichen Staates erzogen wird, nur die bischöflichen Seminarien in einiger Beziehung ausgenommen, kann und muß der Staatsgewalt zukommen, und zwar so, daß kein Recht irgendeiner anderen Autorität sich in die Schulzucht, in die Anordnung der Studien, in die Verleihung der Grade und in die Wahl und die Approbation der Lehrer zu mischen, anerkannt werde.
46. Ja, sogar in den Klerikal-Seminarien unterliegt die anzuwendende Methode der Studien der Staatsgewalt.
47. Die beste Staatseinrichtung erfordert, daß die Volksschulen, die allen Kindern jeder Volksklasse zugänglich sind, und überhaupt alle öffentlichen Anstalten, welche für den höheren wissenschaftlichen Unterricht und die Erziehung der Jugend bestimmt sind, aller Autorität der Kirche enthoben und vollständig der Leitung der weltlichen und politischen Autorität unterworfen seien nach dem Belieben der Regierungen und nach Maßgabe der landläufigen Meinungen der Zeit.
48. Katholische Männer können sich eine Art von Jugendbildung gefallen lassen, die von dem katholischen Glauben und der Gewalt der Kirche getrennt ist, und welche nur die Kenntnis der natürlichen Dinge und die Zwecke des irdischen sozialen Lebens ausschließlich oder doch als Hauptziel im Auge hat.
49. Die Staatsgewalt kann es verhindern, daß die Bischöfe und gläubigen Völker mit dem Römischen Papste frei und gegenseitig verkehren.
50. Die Laien-Obrigkeit hat von sich aus das Recht, Bischöfe zu präsentieren und kann von ihnen verlangen, daß sie die Verwaltung ihrer Diözesen antreten, bevor sie vom Heiligen Stuhl die kanonische Einsetzung und apostolische Schreiben erhalten.
51. Die Laien-Regierung hat sogar das Recht, die Bischöfe der Ausübung ihres oberhirtlichen Amtes zu entheben, und ist nicht verpflichtet, in dem, was den Episkopat und die Einsetzung der Bischöfe betrifft, dem Römischen Papste zu gehorchen.
52. Eine Regierung kann aus eigenem Rechte das von der Kirche vorgeschriebene Alter für die Ablegung von Gelübden sowohl bei Männern als auch bei Frauen abändern und allen Ordensgenossenschaften verbieten, ohne ihre Erlaubnis jemanden zur Ablegung der feierlichen Gelübde zuzulassen.
53. Die Gesetze sind abzuschaffen, welche den Schutz der religiösen Orden, ihrer Pflichten und Rechte betreffen; die staatliche Regierung kann sogar Allen Unterstützungen gewähren, welche den gewählten Ordensstand verlassen und ihre feierlichen Gelübde brechen wollen; ebenso kann sie Ordenshäuser, Kollegiatkirchen und einfache geistliche Pfründen, sogar wenn sie dem Patronatsrechte unterstehen, ganz unterdrücken und ihre Güter und Einkünfte der staatlichen Verwaltung und Verfügung unterwerfen und
überweisen.
54. Könige und Fürsten sind nicht nur von der Jurisdiktion der Kirche ausgenommen, sondern stehen auch bei Entscheidung von Jurisdiktionsfragen über der Kirche.
55. Die Kirche ist vom Staate, der Staat von der Kirche zu trennen.

§ VII. Irrtümer über das natürliche und das christliche Sittengesetz.
56. Die Sittengesetze bedürfen der göttlichen Sanktion nicht, und es ist gar nicht notwendig, daß die menschlichen Gesetze mit dem natürlichen Rechte in Übereinstimmung gebracht werden oder ihre verpflichtende Kraft von Gott erhalten.
57. Philosophie und philosophische Ethik, sowie die bürgerlichen Gesetze können und sollen von der göttlichen und kirchlichen Autorität abweichen.
58. Es sind keine anderen Kräfte anzuerkennen, als die im Stoffe ruhenden; und alle Zucht der Sitte und Ehrbarkeit ist in die Aufhäufung und Vermehrung von Reichtümern auf jedwede Art und in den Genuß der Vergnügungen zu setzen.
59. Das Recht besteht in der materiellen Tatsache; alle Pflichten der Menschen sind ein leerer Name, und alle menschlichen Taten haben Rechtskraft.
60. Die Autorität ist nichts anderes als die Zahl und die Summe der materiellen Kräfte.
61. Die vom Glück begleitete Ungerechtigkeit der Tat bringt der Heiligkeit des Rechtes keinen Schaden.
62. Das sogenannte 'Nichtinterventionsprinzip' ist zu verkünden und zu beobachten.
63. Man darf den rechtmäßigen Fürsten den Gehorsam versagen, ja sogar gegen sie aufstehen.
64. Der Bruch jedes noch so heiligen Eides und jede verbrecherische und schändliche, dem ewigen Gesetze zuwiderlaufende Handlung sind nicht nur nicht verdammenswert, sondern durchaus erlaubt und sogar höchst lobenswert, wenn sie aus Liebe zum Vaterlande geschehen.

§ VIII. Irrtümer über die christliche Ehe.
65. Es kann auf keine Weise geduldet werden, daß Christus die Ehe zur Würde eines Sakramentes erhoben habe.
66. Das Sakrament der Ehe ist etwas bloß zu dem Vertrage Hinzukommendes und von ihm zu Trennendes, und das Sakrament selbst liegt einzig und allein in der ehelichen Einsegnung.
67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich und in verschiedenen Fällen kann die Ehescheidung im eigentlichen Sinne durch die weltliche Behörde gesetzlich ausgesprochen werden.
68. Die Kirche hat nicht die Gewalt, trennende Ehehindernisse aufzustellen, sondern diese Gewalt steht der weltlichen Behörde zu, von welcher die bestehenden Hindernisse aufzuheben sind.
69. Die Kirche hat erst in späteren Jahrhunderten angefangen, trennende Ehehindernisse aufzustellen, nicht aus eigenem, sondern aus dem ihr von der weltlichen Gewalt übertragenen Recht.
70. Die tridentinischen Canones, welche das Anathem über jene verhängen, die das Recht der Kirche zur Aufstellung trennender Ehehindernisse zu leugnen wagen, sind teils nicht dogmatischer Natur, teils von jener übertragenen Gewalt zu verstehen.
71. Die tridentinische Form bei Strafe der Ungültigkeit ist unverbindlich, wo das staatliche Gesetz eine andere Form vorschreibt und von dieser neuen Form die Gültigkeit der Ehe abhängig macht.
72. Bonifacius VIII. hat zuerst erklärt, daß das bei der Ordination (= den Höheren Weihen) abgelegte Keuschheitsgelübde die Ehe nichtig mache.
73. Kraft eines bloßen Zivil-Vertrages kann unter Christen eine wahre Ehe bestehen, und es ist falsch, daß entweder der Ehevertrag zwischen Christen stets ein Sakrament sei, oder daß auch der Vertrag nichtig sei, wenn das Sakrament davon ausgeschlossen wird.
74. Ehesachen und Sponsalien gehören ihrer eigenen Natur nach vor das weltliche Gericht.
N. B. Hierher gehören noch zwei andere Irrtümer; über die Abschaffung der Ehelosigkeit der Geistlichen, und darüber, daß der Ehestand dem jungfräulichen Stand vorzuziehen sei. Der erste ist in der Enzyklika vom 9. November 1846, der andere in dem Apostolischen Schreiben vom 10. Juni 1851 verworfen.

§ IX. Irrtümer über die weltliche Herrschaft des Römischen Papstes.
75. Über die Vereinbarkeit der zeitlichen Herrschaft mit der geistlichen streiten sich die Söhne der christlichen und katholischen Kirche.
76. Die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, die der Apostolische Stuhl besitzt, würde zur Freiheit und zum Glück der Kirche sehr viel beitragen.
N. B. Außer diesen ausdrücklich hervorgehobenen Irrtümern werden noch mehrere andere implicite verworfen durch die Vorhaltung und Feststellung der Lehre, an welcher alle Katholiken festhalten sollen. Diese Lehre wird einleuchtend behandelt in den Allocutionen vom 20. April 1849, vom 20. Mai 1850, dem Apostolischen Schreiben vom 26. März 1860, den Allocutionen vom 28. September 1860, 18. März 1861 und 9. Juni 1862.

§ X. Irrtümer, welche sich auf den Liberalismus unserer Tage beziehen.
77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, daß die katholische Religion als einzige Staatsreligion unter Ausschluß aller anderen Kulte gehalten werde.
78. Es war daher gut getan, in gewissen katholischen Ländern den Einwanderern gesetzlich die freie Ausübung ihres Kultus zu garantieren.
79. Denn es ist ja falsch, daß die staatliche Freiheit der Kulte und die Allen gewährte Vollmacht was immer für Meinungen und Ansichten offen und öffentlich kund zu geben, zur leichteren Verderbnis der Sitten und zur Verbreitung der Pest des Indifferentismus führen. (79)
80. Der Römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vergleichen.


Dekret "Lamentabili"

Ein beklagenswertes Verhängnis ist es fürwahr, daß unsere Zeit, jedes Zügels überdrüssig, in ihrem Streben nach den Höhen der Erkenntnis nicht selten in der Weise dem Neuen nachjagt, daß sie mit Preisgabe dessen, was als Geisteserbe der Menschheit zu betrachten ist, in die schwersten Irrtümer hineingerät. Solche Irrtümer müssen aber umso verderblicher sein, wenn es sich um die Heiligen Wissenschaften handelt, um die Auslegung der Heiligen Schrift, um die Hauptgeheimnisse des Glaubens. Da ist es überaus betrübend, daß es auch unter den Katholiken nicht wenige Schriftsteller gibt, welche mit Überschreitung der von den Vätern und von der Kirche selbst gezogenen Grenzlinien unter dem Scheine eines tieferen Verständnisses und unter dem Vorwande einer historischen Auffassung einen solchen Fortschritt der Glaubensdogmen suchen, der in Wirklichkeit deren Untergrabung gleichkommt.
Damit nun Irrtümer dieser Art, wie sie tagtäglich unter den Gläubigen ausgestreut werden, nicht in den Geistern Wurzel fassen und die Reinheit des Glaubens verfälschen, hat Seine Heiligkeit unser Heiliger Vater Papst Pius X. bestinmt, daß durch das Tribunal der Heiligen Römischen und Allgemeinen Inquisition die hauptsächlichsten derselben notiert und verurteilt würden.
Demzufolge haben die Generalinquisitoren für Sachen des Glaubens und der Sitten, Ihre Eminenzen die hochwürdigsten Herren Kardinale, nach sorgfältiger Untersuchung und nach Anhörung der Gutachten der hochwürdigsten Herren Konsultoren ihr Urteil dahin abgegeben, daß folgende Sätze zu verwerfen und verbieten seien, wie sie im vorliegenden Erlaß verworfen und verboten werden

Die Befreiung der Exegese vom kirchlichen Lehramt
1.) Das kirchliche Gesetz, welches vorschreibt, Bücher über die Heilige Schrift einer vorausgehenden Zensur zu unterwerfen, erstreckt sich nicht auf die Vertreter der Bibelkritik und der wissenschaftlichen Exegese der Bücher des Alten und Neuen Testamentes.
2.) Die von der Kirche gegebene Auslegung der Heiligen Bücher ist zwar nicht zu verachten, unterliegt jedoch der genaueren Beurteilung und Berichtigung von selten der Exegeten.
3.) Aus den kirchlichen Verurteilungen und Zensuren gegen eine freie und mehr ausgebildete Exegese ergibt sich, daß der von der Kirche vorgestellte Glaube mit der Geschichte im Widerspruch steht und die katholischen Glaubenslehren mit dem wahren Ursprung der christlichen Religion tatsächlich nicht in Einklang zu bringen sind.
4.) Das Lehramt der Kirche vermag den wirklichen Sinn der Heiligen Schrift auch selbst durch dogmatische Entscheidungen nicht festzustellen.
5.) Da im Glaubensschatz nur geoffenbarte Wahrheiten enthalten sind, so steht es der Kirche unter keiner Rücksicht zu, über Behauptungen rein menschlicher Wissenschaften ein Urteil zu falten.
6.) Bei der Entscheidung von Glaubenswahrheiten wirken die lernende und die lehrende Kirche in der Weise zusammen, daß der lehrenden Kirche nichts weiter zusteht, als die allgemein herrschenden Anschauungen der lernenden gutzuheißen.
7.) Die Kirche kann, wenn sie Irrtümer verwirft, von den Gläubigen nicht eine innere Zustimmung zu diesem ihrem Urteile verlangen.
8.) Von aller Schuld sind jene frei zu erachten, welche über die Verurteilungen der Heiligen Kongregation des Index oder der anderen Heiligen Römischen Kongregationen sich hinwegsetzen.

Die Inspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift
9.) Allzu große Einfalt oder Unwissenheit geben jene zu erkennen, welche glauben, daß Gott wirklich der Urheber der Heiligen Schrift sei.
10.) Die Inspiration der Bücher des Alten Testamentes besteht darin, daß israelitische Schriftsteller religiöse Lehren in einer besonderen, den Heiden wenig oder gar nicht bekannten Auffassung überliefert haben.
11.) Die göttliche Inspiration erstreckt sich nicht in der weise über die gesamte Heilige Schrift, daß sie alle ihre einzelnen Teile vor jedem Irrtum bewahrt.
12.) Der Exeget muß, sofern er mit wirklichem Nutzen die biblischen Studien betreiben will, jede vorgefaßte Meinung von einem übernatürlichen Ursprung der Heiligen Schrift beiseite setzen und diese nicht anders auslegen als andere Bücher rein menschlichen Ursprungs.
13.) Die im Evangelium enthaltenen Gleichnisse haben die Evangelisten selbst und die Christen der zweiten und dritten Generation künstlich gestaltet und damit die geringe Frucht der Predigt Christi bei den Juden erklärt.
14.) Bei mehreren Erzählungen haben die Evangelisten nicht so sehr berichtet, was der Wahrheit entspricht, als was ihnen, wenn auch falsch, für ihre Leser nutzbringender erschien.
15.) Die Evangelien wurden bis zur endgültigen Feststellung des Kanon durch beständige Zusätze und Verbesserungsversuche erweitert: deshalb ist in ihnen von den Lehren Christi nur eine schwache und unbestimmte Spur zurückgeblieben.
16.) Die Erzählungen bei Johannes sind nicht eigentlich Geschichte, sondern eine mystische Kontemplation über das Evangelium; die in seinem Evangelium enthaltenen Reden sind theologische Betrachtungen über das Geheimnis des Heiles und ohne jede historische Wahrheit.
17.) Das vierte Evangelium hat die Wunder aufgebauscht, nicht nur damit sie mehr außerordentlich erscheinen, sondern auch damit sie geeigneter seien das Werk und die Herrlichkeit des Fleischgewordener Wortes erkennen zu lassen.
18.) Johannes legt sich zwar den Charakter eines Zeugen für Christus bei: in der Tat aber ist er nur ein vorzüglicher Zeuge für das christliche Leben oder das Leben Christi in der Kirche um die Zeit des ausgehenden ersten Jahrhunderts.
19.) Die andersgläubigen Exegeten haben den wahren Sinn der Heiligen Schrift treuer wiedergegeben als die katholischen Exegeten.

Der Empfang der Offenbarung und des Dogmas
20.) Die Offenbarung konnte nichts anderes sein als das vom Menschen gewonnene Bewußtsein seines Verhältnisses zu Gott.
21.) Die Offenbarung, welche den Gegenstand des katholischen Glaubens ausmacht, war mit den Aposteln noch nicht abgeschlossen.
22.) Die Dogmen, welche die Kirche als geoffenbarte hinstellt, sind nicht vom Himmel gefallene Wahrheiten, sondern eine Art Auslegung religiöser Tatsachen, zu welcher der menschliche Geist mit Mühe und Anstrengung gelangt ist.
23.) Zwischen den in der Heiligen Schrift erzählten Tatsachen und den Glaubenssätzen der Kirche, welche sich auf dieselben stützen, kann ein Gegensatz bestehen und besteht wirklich, so daß der Kritiker Tatsachen als falsch verwerfen kann, welche die Kirche als völlig sicher glaubt.
24.) Ein Exeget, welcher Vordersätze aufstellt, aus welchen folgt, daß Dogmen historisch falsch oder zweifelhaft seien, ist nicht zu verurteilen, solange er die Dogmen selbst nicht direkt leugnet.
25.) Die Glaubenszustimmung gründet sich endlich und letztlich nur auf einer Summe von Wahrscheinlichkeiten.
26.) Die Dogmen des Glaubens braucht man nur festzuhalten nach ihrer praktischen Bedeutung, d.h. als gebietende Norm des Handelns, nicht aber als Norm des gläubigen Fürwahrhaltens.

Christus
27.) Die Gottheit Jesu Christi läßt sich aus den Evangelien nicht beweisen, sondern das christliche Bewußtsein hat aus der Messias-Idee dieses Dogma abgeleitet.
28.) Jesus hat bei der Ausübung .seines Amtes nicht in der Absicht gesprochen, um von sich zu lehren, daß er der Messias sei, noch auch hatten seine Wunder den Zweck, dieses zu beweisen.
29.) Man kann zugeben, daß der geschichtliche Christus um vieles tiefer stehe als der Christus, welcher Gegenstand unseres Glaubens ist.
30.) In allen Texten des Evangeliums ist der Name "Sohn Gottes" lediglich gleichbedeutend mit dem Namen "Messias", keineswegs aber besagt er, daß Christus wirklich und wesenhaft der Sohn Gottes sei.
31.) Die Lehre von Christus, so wie Paulus, Johannes und die Konzilien von Nizäa, Ephesus, Chaicedon sie darbieten, ist nicht jene, die Jesus gelehrt hat, sondern die, welche das christliche Bewußtsein in bezug auf Jesus sich gebildet hat.
32.) Der natürliche Sinn der Texte der Evangelien läßt sich mit dem, was unsere Theologen über das Bewußtsein und das unfehlbare Wissen Jesu Christi lehren, nicht in Einklang bringen.
33.) Für jeden Vorurteilslosen liegt es klar zutage, daß entweder Jesus über die nahe bevorstehende messianische Ankunft einen Irrtum ausgesagt hat, oder daß der größere Teil seiner in den synoptischen Evangelien enthaltenen Lehren der Authentizität entbehrt.
34.) Der Kritiker kann Christus ein schrankenloses Wissen nicht zuschreiben außer in der geschichtlich undenkbaren, dem moralischen Sinne widerstrebenden Voraussetzung, Christus habe zwar als Mensch das Wissen Gottes gehabt, nichtsdestoweniger aber die Kenntnis so vieler Dinge seinen Jüngern und der Nachwelt nicht mitteilen wollen.
35.) Christus hatte nicht immer das Bewußtsein seiner messiam'schen Würde.
36.) Die Auferstehung Christi ist nicht eigentlich eine Tatsache geschichtlicher Ordnung, sondern eine weder bewiesene noch auch beweisbare Tatsache rein übernatürlicher Ordnung, welche das christliche Bewußtsein aus anderen allmählich abgeleitet hat.
37.) Der Glaube an die Auferstehung Christi galt anfangs nicht so sehr der Tatsache der Auferstehung, als vielmehr dem unsterblichen Leben Christi bei Gott.
38.) Die Lehre vom Versöhnungstode Christi ist nicht aus den Evangelien, sondern nur paulinisch.

Die Sakramente
39.) Die Meinungen über den Ursprung der Sakramente, von denen die Väter auf dem Konzil von Trient beherrscht waren und welche ohne Zweifel auf ihre dogmatischen Kanones Einfluß geübt haben, sind weit verschieden von den Ansichten, welche heute bei den Erforschern der christlichen Vorzeit mit Recht obwalten.
40.) Die Sakramente sind daraus entstanden, daß die Apostel und ihre Nachfolger unter Einwirkung von Umständen und Vorkommnissen eine Idee oder eine Absicht Christi ausgelegt haben.
41.) Die Sakramente haben eigentlich nur den Zweck, daß sie dem Menschen die allzeit wohltätige Gegenwart des Schöpfers ins Gedächtnis rufen.
42.) Die christliche Gemeinde hat die Notwendigkeit der Taufe eingeführt, indem sie dieselbe zu einem unerläßlichen Ritus annahm und damit die Verpflichtungen des christlichen Bekenntnisses verknüpfte.
43.) Der Gebrauch, auch Kindern die Taufe zu spenden, war eine Weiterentwicklung auf disziplinarem Gebiet, welche Mitursache war, daß dieses Sakrament in zwei, nämlich Taufe und Buße, geschieden wurde.
44.) Nichts beweist, daß das Sakrament der Firmung schon von den Aposteln in Anwendung kam: eine ausdrückliche Scheidung der beiden Sakramente, Taufe und Firmung, hat in der Geschichte des Urchristentums keinen Anhaltspunkt.
45.) Nicht alles, was Paulus (l Kor.11,23-25) über die Einsetzung der Eucharistie erzählt, ist historisch zu nehmen.
46.) In der Urkirche wußte man nichts von einer Versöhnung des christlichen Sünders durch die Autorität der Kirche, sondern nur äußerst langsam hat die Kirche an eine solche Auffassung sich gewöhnt. Selbst nachdem die Buße als kirchliche Einrichtung anerkannt war, wurde sie nicht mit dem Namen "Sakrament" belegt, da man sie als entehrendes Sakrament betrachtete.
47.) Die Worte des Herrn: "Empfanget den Heiligen Geist: welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie beha1ten" (Joh.20,22-23), beziehen sich gar nicht auf das Sakrament der Buße, was immer die Väter von Trient darüber behauptet haben mögen.
48.) Jakobus beabsichtigt in seinem Briefe (5,14.15) keineswegs, ein Sakrament Christi zu verkündigen, sondern will nur einen frommen Gebrauch empfehlen; und sollte er auch vielleicht in diesem Gebrauch ein Mittel der Gnade erblicken, so nimmt er dies doch nicht in dem strengen Sinn der Theologen, welche Begriff und Zahl der Sakramente festgestellt haben.
49.) Indem das christliche Abendmahl allmählich die Gestalt einer liturgischen Handlung annahm, erlangten die, welche dem Abendmahle gewöhnlich vorzustehen pflegten, den priesterlichen Charakter.
50.) Die Ältesten, welche bei den Versammlungen der Christen die Aufsicht führten, wurden von den Aposteln als Presbyter oder Bischöfe aufgestellt, um in den anwachsenden Gemeinden für die nötige Ordnung zu sorgen, aber nicht eigentlich, um die Mission und Vollmacht der Apostel fortzusetzen.
51.) Erst spät konnte die Ehe in der Kirche ein Sakrament des Neuen Bundes werden; denn der Auffassung der Ehe als Sakrament mußte die volle Entfaltung der theologischen Lehre über Gnade und Sakramente vorausgehen.

Die Verfassung der Kirche
52.) Im Sinne Christi lag es nicht, die Kirche als eine Gesellschaft zu begründen, die eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch auf Erden bestehen sollte; vielmehr stand nach der Meinung Christi das Himmelreich zugleich mit dem Weltende unmittelbar bevor.
53.) Die organische Verfassung der Kirche ist nicht unveränderlich, sondern die christliche Gesellschaft ist, gleich wie die menschliche, einer steten Entwicklung unterworfen.
54.) Dogmen, Sakramente, Hierarchie, sowohl ihrem Begriff wie ihrer Tatsächlichkeit nach, sind nur Ausdeutungen und Weiterentwicklungen des christlichen Gedankens, die den winzigen im Evangelium verborgenen Keim durch äußere Zutat wachsen und sich vervollkommnen ließen.
55.) Simon Petrus hat sich niemals auch nur den Gedanken bei kommen lassen, als sei ihm von Christus der Primat der Kirche übertragen.
56.) Die Römische Kirche ist nicht durch Anordnung der göttlichen Vorsehung, sondern durch Umstände rein politischer Art das Haupt aller Kirchen geworden.
57.) Die Kirche stellt sich dem Fortschritt der natürlichen und theologischen Wissenschaft feindlich entgegen.

Die Unveränderlichkeit der religiösen Wahrheiten
58.) Die Wahrheit ist nicht unveränderlicher als der Mensch selbst, da sie mit ihm, in ihm und durch ihn zur Entfaltung kommt.
59.) Christus hat einen festbegrenzten Lehrinhalt, der für alle Zeiten und alle Menschen Geltung haben sollte, nicht gelehrt, sondern vielmehr eine gewisse religiöse Bewegung eingeleitet, die den verschiedenen Zeiten und Orten sich anpaßte oder angepaßt werden sollte.
60.) Die christliche Lehre war in ihrem Ursprunge jüdisch, wurde aber auf dem Wege verschiedener Entwicklungsstufen erst paulinisch, dann johanneisch, zuletzt hellenisch und allgemein.
61.) Ohne Widerspruch kann behauptet werden, kein Kapitel der Heiligen Schrift vom ersten der Genesis bis zum letzten der Apokalypse enthalte eine Lehre völlig gleichförmig mit der, welche über dieselbe Sache die katholische Kirche lehrt, und es habe daher kein Kapitel der Heiligen Schrift den gleichen Sinn für den Kritiker und für den Theologen.
62.) Die Hauptartikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses haben für die Christen der ersten Zeiten nicht denselben Sinn gehabt wie für die Christen unserer Tage.
63.) Die Kirche erweist sich unvermögend, die Ethik des Evangeliums wirksam zu schützen, weil sie hartnäckig Lehren als unabänderlich festhält, die mit den heutigen Fortschritten nicht zu vereinigen sind.
64.) Der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, daß die Auffassungen der christlichen Lehre von Gott, Schöpfung, Offenbarung, Person des Fleischgewordenen Wortes, Erlösung reformiert werden.
65.) Der heutige Katholizismus läßt sich mit der wahren Wissenschaft nicht in Einklang bringen, wenn er nicht umgewandelt wird in ein undogmatisches Christentum, d.h. einen weitherzigen und freisinnigen Protestantismus.

Nachdem am darauffolgenden Tage, Donnerstag, den 4. Juli desselben Jahres, Seiner Heiligkeit unserem Heiligen Vater Papst Pius X. über alles dies genauer Bericht erstattet war, hat Seine Heiligkeit den Erlaß der vorbezeichneten Eminenzen gutgeheißen und bestätigt, und befohlen, daß alle und jede der oben bezeichneten Behauptungen von allen als verworfen und verboten zu betrachten seien.

Petrus Palombelli, Protonotar der Heiligen Römischen Kirche


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