Beispielsweise vergleiche man den Text des Dogmas:
"Wer sagt, es sei möglich, daß man den von der Kirche vorgelegten
Glaubenssätzen entsprechend dem Fortschritt der Wissenschaft gelegentlich
einen anderen Sinn beilegen müsse als den, den die Kirche verstanden
hat und versteht, der sei ausgeschlossen" (NR 61, cf. DS 3043),
mit den Sätzen, die von Pius IX.:
"5. Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher einem
fortwährenden und unbegrenzten Fortschritt unterworfen, der dem Fortschreiten
der menschlichen Vernunft entspricht",
und Pius X. verworfen wurden:
"64.) Der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, daß die Auffassungen
der christlichen Lehre von Gott, Schöpfung, Offenbarung, Person des
Fleischgewordenen Wortes, Erlösung reformiert werden."
Vergleicht man die von der Kirche verurteilten Sätze z.B. mit der deutschen Verfassung und mit der Religionsdiktatur in Deutschland (deutlich etwa im Herz-Jesu-Urteil, dem "Meisterstück" der Sozietät Redeker), dann besteht kein Grund zu einem übertriebenen Optimismus bzgl. der Wohlfahrt des deutschen Staates. In gewisser Weise kann man sagen, dass die verurteilten Sätze noch Gegenstand der heutigen "theologischen Ausbildung" an den "katholischen Fakultäten" sind - nur eben werden diese Sätze nicht als falsch, sondern als richtig hingestellt.
Diese deutschen Texte sind der Schriftenreihe "Freude an der Wahrheit"
(Nr. 52 und Nr. 14) von Karl Haselböck entnommen, die Überschriften
zu "Lamentabili" stehen im Denzinger; die im Syllabus angegebenen Verweise
auf die entsprechenden lehramtlichen Quellen sind eher von wissenschaftlichem
Interesse und werden hier nicht wiedergegeben, d.h. der Syllabus ist hier
ein klein wenig gekürzt zitiert. Da Haselböck versichert, authentische
kirchliche Übersetzungen wiederzugeben, halten wir es für ausgeschlossen,
dass wir hier ein Copyright verletzen.
An dieser Stelle erklären wir ausdrücklich, dass wir Haselböcks
Wirken nicht gutheißen und nicht unterstützen. Ein Beispiel:
Haselböck verkündete das "Dogma": "Wer sagt, ... man dürfe
die Messe in der bloßen Volkssprache feiern, ... der sei (aus der
Kirche) ausgeschlossen" (FadW Nr. 4); das kirchliche Anathem lautet aber:
"Si quis dixerit, [...] lingua tantum vulgari Missam celebrari debere,
[...] an. s." [Wer sagt, die Messe müsse ausschließlich in der
Volkssprache zelebriert werden, der sei ausgeschlossen] (DS 1759); s. auch
Die Indultszene. In FadW Nr. 16 fordert Haselböck
sogar: "Stehen wir getreu hinter Erzbischof Marcel Lefebvre, unserem gemeinsamen
geistlichen Vater". Das braucht man jetzt nicht mehr zu kommentieren. Damit
zu den Texten:
§ II. Gemäßigter Rationalismus.
8. Da die menschliche Vernunft der Religion selbst gleichzustellen
ist, darum sind die theologischen Disziplinen gerade ebenso wie die philosophischen
zu behandeln.
9. Alle Dogmen der christlichen Religion ohne Unterschied sind Gegenstand
der natürlichen Wissenschaft oder der Philosophie: und die bloß
historisch gebildete menschliche Vernunft kann aus ihren natürlichen
Kräften und Prinzipien zu der wahren Erkenntnis in Betreff aller,
auch der dunkelsten Dogmen gelangen, wenn nur diese Dogmen der Vernunft
selbst als Gegenstand vorgelegt gewesen sind.
10. Da etwas anderes der Philosoph und etwas anderes die Philosophie
ist, so hat jener das Recht und die Pflicht, sich der Autorität, welche
er für die wahre erkannt hat, zu unterwerfen; aber die Philosophie
kann und darf nicht sich irgendeiner Autorität unterwerfen.
11. Die Kirche darf sich nicht allein gegen keine Philosophie wenden,
sondern muß auch die Irrtümer dieser Philosophie dulden und
es ihr überlassen, daß sie sich selbst verbessere.
12. Die Dekrete des Apostolischen Stuhles und der römischen Kongregationen
hindern den freien Fortschritt der Wissenschaft.
13. Die Methode und die Prinzipien, nach welchen die alten scholastischen
Lehrer die Theologie ausgebildet haben, stimmen mit den Bedürfnissen
unserer Zeit und mit dem Fortschritte der Wissenschaften keineswegs überein
14. Die Philosophie muß behandelt werden ohne Rücksicht
auf die übernatürliche Offenbarung.
§ III. Indifferentismus, Latitudinarismus.
15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen,
welche jemand, durch das Licht der Vernunft geführt, für die
wahre hält.
16. Die Menschen können bei der Übung jedweder Religion den
Weg des ewigen Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen.
17. Wenigstens darf wohl auf die ewige Seligkeit aller jener gehofft
werden, welche in der wahren Kirche Christi keineswegs leben.
18. Der Protestantismus ist nichts anderes, als eine verschiedene Form
derselben wahren christlichen Religion, in welcher es ebenso gut, als in
der katholischen Kirche gegeben ist, Gott wohlgefällig zu sein.
§ IV. Sozialismus, Kommunismus, geheime Gesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Vereine.
§ V. Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte.
19. Die Kirche ist nicht eine wahre und vollkommene, völlig freie
Gesellschaft und steht nicht auf ihren eigenen und beständigen, von
ihrem göttlichen Stifter ihr verliehenen Rechten, sondern es ist Sache
der Staatsgewalt, zu bestimmen, welches die Rechte der Kirche und welches
die Schranken seien, innerhalb der sie diese Rechte ausüben könne.
20. Die Kirchengewalt darf ihre Autorität nicht ohne Erlaubnis
und Zustimmung der Staatsgewalt ausüben.
21. Die Kirche hat nicht die Macht, dogmatisch zu entscheiden, daß
die Religion der katholischen Kirche die einzig wahre Religion sei.
22. Die Verpflichtung, welche katholische Lehrer und Schriftsteller
durchaus bindet, ist nur auf das beschränkt, was von dem unfehlbaren
Ausspruch der Kirche als Glaubenssatz für alle zu glauben vorgestellt
wird.
23. Die Römischen Päpste und die Allgemeinen Konzilien haben
die Grenzen ihrer Gewalt überschritten, Rechte der Fürsten usurpiert
und auch in Festsetzung der Glaubens- und Sittenlehren geirrt.
24. Die Kirche hat nicht Macht, äußeren Zwang anzuwenden,
noch irgend eine zeitliche direkte oder indirekte Gewalt.
25. Außer der dem Episkopat inhärierenden Gewalt ist ihm
eine andere zeitliche Gewalt von der weltlichen Regierung entweder ausdrücklich
oder stillschweigend verliehen und daher von der Staatsregierung nach Belieben
zurückzunehmen.
26. Die Kirche hat kein angeborenes und legitimes Recht auf Erwerb
und Besitz.
27. Die geweihten Diener der Kirche und der Römische Papst selbst
sind von aller Leitung und Herrschaft über weltliche Dinge durchwegs
auszuschließen.
28. Die Bischöfe dürfen ohne Erlaubnis der Staatsregierung
nicht einmal apostolische Schreiben veröffentlichen.
29. Die vom Papst verliehenen Gnaden müssen für ungültig
angesehen werden, wenn sie nicht durch die Staatsregierung nachgesucht
worden sind.
30. Die Immunität der Kirche und der kirchlichen Personen hatte
ihren Ursprung vom Zivilrecht.
31. Die geistliche Gerichtsbarkeit für zeitliche Zivil- wie Kriminal-Angelegenheiten
der Geistlichen ist durchaus abzuschaffen, auch ohne Befragen und gegen
den Einspruch des Apostolischen Stuhles.
32. Ohne alle Verletzung des natürlichen Rechtes und der Billigkeit
kann die persönliche Befreiung der Kleriker vom Militärdienst
abgeschafft werden, und diese Abschaffung verlangt sogar der staatliche
Fortschritt namentlich in einer nach der Form einer freieren Regierung
eingerichteten Gesellschaft.
33. Es gehört nicht einzig zur kirchlichen Jurisdiktionsgewalt,
aus eigenem angeborenem Rechte die theologischen Studien zu leiten.
34. Die Lehre, welche den Römischen Papst einem freien und in
der ganzen Kirche seine Macht ausübenden Fürsten vergleicht,
ist eine Lehre, die im Mittelalter vorherrschte.
35. Nichts verbietet, durch Beschluß eines Allgemeinen Konzils
oder durch die Tat aller Völker das Pontifikat von dem Römischen
Bischof und von Rom auf einen anderen Bischof und eine andere Stadt zu
übertragen.
36. Die Entscheidung eines National-Konzils läßt keine weitere
Erörterung zu, und die Staatsregierung kann eine Sache bis zu dieser
Entscheidung bringen.
37. Es können Nationalkirchen errichtet werden, welcher der Autorität
des Römischen Papstes entzogen und von ihr völlig getrennt sind.
38. Zur Trennung der Kirche in eine morgenländische und abendländische
hat die übermäßige Willkür der Römischen Päpste
beigetragen.
§ VI. Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft
sowohl an sich, als in ihren Beziehungen zur Kirche.
39. Der Staat besitzt als der Ursprung und die Quelle aller Rechte
ein schrankenloses Recht.
40. Die Lehre der katholischen Kirche ist dem Wohl und Vorteil der
menschlichen Gesellschaft zuwider.
41. Die Staatsgewalt hat, selbst wenn sie von einem ungläubigen
Fürsten ausgeübt wird, ein indirektes, negatives Recht in religiösen
Dingen; sie hat also nicht nur das Recht des 'Exequatur', sondern auch
das der 'appellatio', welche 'ab abusu' genannt wird. (= der Berufung gegen
kirchliche Verfügungen an staatliche Behörden wegen angeblichen
Mißbrauchs der kirchlichen Gewalt)
42. Im Konflikt der Gesetze beider Gewalten geht das weltliche Recht
vor.
43. Die Laien-Gewalt hat die Macht, feierliche Verträge (vulgo
Konkordate), die über die Ausübung der zur kirchlichen Immunität
gehörigen Rechte mit dem Heiligen Stuhle geschlossen wurden, ohne
dessen Einwilligung, ja sogar gegen seinen Widerspruch zu beschränken,
für nichtig zu erklären und außer Kraft zu setzen.
44. Die Staatsgewalt kann sich in Sachen der Religion, der Sittenzucht
und des geistlichen Regiments mischen. Sie kann also über die Weisungen
urteilen, welche die Hirten der Kirche ihrem Amte gemäß zur
Norm der Gewissen erlassen, und kann sogar über die Verwaltung der
heiligen Sakramente und über die zu deren Empfang nötigen Dispositionen
entscheiden.
45. Die ganze Leitung der öffentlichen Schulen, in denen die Jugend
eines christlichen Staates erzogen wird, nur die bischöflichen Seminarien
in einiger Beziehung ausgenommen, kann und muß der Staatsgewalt zukommen,
und zwar so, daß kein Recht irgendeiner anderen Autorität sich
in die Schulzucht, in die Anordnung der Studien, in die Verleihung der
Grade und in die Wahl und die Approbation der Lehrer zu mischen, anerkannt
werde.
46. Ja, sogar in den Klerikal-Seminarien unterliegt die anzuwendende
Methode der Studien der Staatsgewalt.
47. Die beste Staatseinrichtung erfordert, daß die Volksschulen,
die allen Kindern jeder Volksklasse zugänglich sind, und überhaupt
alle öffentlichen Anstalten, welche für den höheren wissenschaftlichen
Unterricht und die Erziehung der Jugend bestimmt sind, aller Autorität
der Kirche enthoben und vollständig der Leitung der weltlichen und
politischen Autorität unterworfen seien nach dem Belieben der Regierungen
und nach Maßgabe der landläufigen Meinungen der Zeit.
48. Katholische Männer können sich eine Art von Jugendbildung
gefallen lassen, die von dem katholischen Glauben und der Gewalt der Kirche
getrennt ist, und welche nur die Kenntnis der natürlichen Dinge und
die Zwecke des irdischen sozialen Lebens ausschließlich oder doch
als Hauptziel im Auge hat.
49. Die Staatsgewalt kann es verhindern, daß die Bischöfe
und gläubigen Völker mit dem Römischen Papste frei und gegenseitig
verkehren.
50. Die Laien-Obrigkeit hat von sich aus das Recht, Bischöfe zu
präsentieren und kann von ihnen verlangen, daß sie die Verwaltung
ihrer Diözesen antreten, bevor sie vom Heiligen Stuhl die kanonische
Einsetzung und apostolische Schreiben erhalten.
51. Die Laien-Regierung hat sogar das Recht, die Bischöfe der
Ausübung ihres oberhirtlichen Amtes zu entheben, und ist nicht verpflichtet,
in dem, was den Episkopat und die Einsetzung der Bischöfe betrifft,
dem Römischen Papste zu gehorchen.
52. Eine Regierung kann aus eigenem Rechte das von der Kirche vorgeschriebene
Alter für die Ablegung von Gelübden sowohl bei Männern als
auch bei Frauen abändern und allen Ordensgenossenschaften verbieten,
ohne ihre Erlaubnis jemanden zur Ablegung der feierlichen Gelübde
zuzulassen.
53. Die Gesetze sind abzuschaffen, welche den Schutz der religiösen
Orden, ihrer Pflichten und Rechte betreffen; die staatliche Regierung kann
sogar Allen Unterstützungen gewähren, welche den gewählten
Ordensstand verlassen und ihre feierlichen Gelübde brechen wollen;
ebenso kann sie Ordenshäuser, Kollegiatkirchen und einfache geistliche
Pfründen, sogar wenn sie dem Patronatsrechte unterstehen, ganz unterdrücken
und ihre Güter und Einkünfte der staatlichen Verwaltung und Verfügung
unterwerfen und
überweisen.
54. Könige und Fürsten sind nicht nur von der Jurisdiktion
der Kirche ausgenommen, sondern stehen auch bei Entscheidung von Jurisdiktionsfragen
über der Kirche.
55. Die Kirche ist vom Staate, der Staat von der Kirche zu trennen.
§ VII. Irrtümer über das natürliche und das
christliche Sittengesetz.
56. Die Sittengesetze bedürfen der göttlichen Sanktion nicht,
und es ist gar nicht notwendig, daß die menschlichen Gesetze mit
dem natürlichen Rechte in Übereinstimmung gebracht werden oder
ihre verpflichtende Kraft von Gott erhalten.
57. Philosophie und philosophische Ethik, sowie die bürgerlichen
Gesetze können und sollen von der göttlichen und kirchlichen
Autorität abweichen.
58. Es sind keine anderen Kräfte anzuerkennen, als die im Stoffe
ruhenden; und alle Zucht der Sitte und Ehrbarkeit ist in die Aufhäufung
und Vermehrung von Reichtümern auf jedwede Art und in den Genuß
der Vergnügungen zu setzen.
59. Das Recht besteht in der materiellen Tatsache; alle Pflichten der
Menschen sind ein leerer Name, und alle menschlichen Taten haben Rechtskraft.
60. Die Autorität ist nichts anderes als die Zahl und die Summe
der materiellen Kräfte.
61. Die vom Glück begleitete Ungerechtigkeit der Tat bringt der
Heiligkeit des Rechtes keinen Schaden.
62. Das sogenannte 'Nichtinterventionsprinzip' ist zu verkünden
und zu beobachten.
63. Man darf den rechtmäßigen Fürsten den Gehorsam
versagen, ja sogar gegen sie aufstehen.
64. Der Bruch jedes noch so heiligen Eides und jede verbrecherische
und schändliche, dem ewigen Gesetze zuwiderlaufende Handlung sind
nicht nur nicht verdammenswert, sondern durchaus erlaubt und sogar höchst
lobenswert, wenn sie aus Liebe zum Vaterlande geschehen.
§ VIII. Irrtümer über die christliche Ehe.
65. Es kann auf keine Weise geduldet werden, daß Christus die
Ehe zur Würde eines Sakramentes erhoben habe.
66. Das Sakrament der Ehe ist etwas bloß zu dem Vertrage Hinzukommendes
und von ihm zu Trennendes, und das Sakrament selbst liegt einzig und allein
in der ehelichen Einsegnung.
67. Nach dem Naturrecht ist das Eheband nicht unauflöslich und
in verschiedenen Fällen kann die Ehescheidung im eigentlichen Sinne
durch die weltliche Behörde gesetzlich ausgesprochen werden.
68. Die Kirche hat nicht die Gewalt, trennende Ehehindernisse aufzustellen,
sondern diese Gewalt steht der weltlichen Behörde zu, von welcher
die bestehenden Hindernisse aufzuheben sind.
69. Die Kirche hat erst in späteren Jahrhunderten angefangen,
trennende Ehehindernisse aufzustellen, nicht aus eigenem, sondern aus dem
ihr von der weltlichen Gewalt übertragenen Recht.
70. Die tridentinischen Canones, welche das Anathem über jene
verhängen, die das Recht der Kirche zur Aufstellung trennender Ehehindernisse
zu leugnen wagen, sind teils nicht dogmatischer Natur, teils von jener
übertragenen Gewalt zu verstehen.
71. Die tridentinische Form bei Strafe der Ungültigkeit ist unverbindlich,
wo das staatliche Gesetz eine andere Form vorschreibt und von dieser neuen
Form die Gültigkeit der Ehe abhängig macht.
72. Bonifacius VIII. hat zuerst erklärt, daß das bei der
Ordination (= den Höheren Weihen) abgelegte Keuschheitsgelübde
die Ehe nichtig mache.
73. Kraft eines bloßen Zivil-Vertrages kann unter Christen eine
wahre Ehe bestehen, und es ist falsch, daß entweder der Ehevertrag
zwischen Christen stets ein Sakrament sei, oder daß auch der Vertrag
nichtig sei, wenn das Sakrament davon ausgeschlossen wird.
74. Ehesachen und Sponsalien gehören ihrer eigenen Natur nach
vor das weltliche Gericht.
N. B. Hierher gehören noch zwei andere Irrtümer; über
die Abschaffung der Ehelosigkeit der Geistlichen, und darüber, daß
der Ehestand dem jungfräulichen Stand vorzuziehen sei. Der erste ist
in der Enzyklika vom 9. November 1846, der andere in dem Apostolischen
Schreiben vom 10. Juni 1851 verworfen.
§ IX. Irrtümer über die weltliche Herrschaft des
Römischen Papstes.
75. Über die Vereinbarkeit der zeitlichen Herrschaft mit der geistlichen
streiten sich die Söhne der christlichen und katholischen Kirche.
76. Die Abschaffung der weltlichen Herrschaft, die der Apostolische
Stuhl besitzt, würde zur Freiheit und zum Glück der Kirche sehr
viel beitragen.
N. B. Außer diesen ausdrücklich hervorgehobenen Irrtümern
werden noch mehrere andere implicite verworfen durch die Vorhaltung und
Feststellung der Lehre, an welcher alle Katholiken festhalten sollen. Diese
Lehre wird einleuchtend behandelt in den Allocutionen vom 20. April 1849,
vom 20. Mai 1850, dem Apostolischen Schreiben vom 26. März 1860, den
Allocutionen vom 28. September 1860, 18. März 1861 und 9. Juni 1862.
§ X. Irrtümer, welche sich auf den Liberalismus unserer
Tage beziehen.
77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, daß die
katholische Religion als einzige Staatsreligion unter Ausschluß aller
anderen Kulte gehalten werde.
78. Es war daher gut getan, in gewissen katholischen Ländern den
Einwanderern gesetzlich die freie Ausübung ihres Kultus zu garantieren.
79. Denn es ist ja falsch, daß die staatliche Freiheit der Kulte
und die Allen gewährte Vollmacht was immer für Meinungen und
Ansichten offen und öffentlich kund zu geben, zur leichteren Verderbnis
der Sitten und zur Verbreitung der Pest des Indifferentismus führen.
(79)
80. Der Römische Papst kann und soll sich mit dem Fortschritt,
dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vergleichen.
Die Befreiung der Exegese vom kirchlichen Lehramt
1.) Das kirchliche Gesetz, welches vorschreibt, Bücher über
die Heilige Schrift einer vorausgehenden Zensur zu unterwerfen, erstreckt
sich nicht auf die Vertreter der Bibelkritik und der wissenschaftlichen
Exegese der Bücher des Alten und Neuen Testamentes.
2.) Die von der Kirche gegebene Auslegung der Heiligen Bücher
ist zwar nicht zu verachten, unterliegt jedoch der genaueren Beurteilung
und Berichtigung von selten der Exegeten.
3.) Aus den kirchlichen Verurteilungen und Zensuren gegen eine freie
und mehr ausgebildete Exegese ergibt sich, daß der von der Kirche
vorgestellte Glaube mit der Geschichte im Widerspruch steht und die katholischen
Glaubenslehren mit dem wahren Ursprung der christlichen Religion tatsächlich
nicht in Einklang zu bringen sind.
4.) Das Lehramt der Kirche vermag den wirklichen Sinn der Heiligen
Schrift auch selbst durch dogmatische Entscheidungen nicht festzustellen.
5.) Da im Glaubensschatz nur geoffenbarte Wahrheiten enthalten sind,
so steht es der Kirche unter keiner Rücksicht zu, über Behauptungen
rein menschlicher Wissenschaften ein Urteil zu falten.
6.) Bei der Entscheidung von Glaubenswahrheiten wirken die lernende
und die lehrende Kirche in der Weise zusammen, daß der lehrenden
Kirche nichts weiter zusteht, als die allgemein herrschenden Anschauungen
der lernenden gutzuheißen.
7.) Die Kirche kann, wenn sie Irrtümer verwirft, von den Gläubigen
nicht eine innere Zustimmung zu diesem ihrem Urteile verlangen.
8.) Von aller Schuld sind jene frei zu erachten, welche über die
Verurteilungen der Heiligen Kongregation des Index oder der anderen Heiligen
Römischen Kongregationen sich hinwegsetzen.
Die Inspiration und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift
9.) Allzu große Einfalt oder Unwissenheit geben jene zu erkennen,
welche glauben, daß Gott wirklich der Urheber der Heiligen Schrift
sei.
10.) Die Inspiration der Bücher des Alten Testamentes besteht
darin, daß israelitische Schriftsteller religiöse Lehren in
einer besonderen, den Heiden wenig oder gar nicht bekannten Auffassung
überliefert haben.
11.) Die göttliche Inspiration erstreckt sich nicht in der weise
über die gesamte Heilige Schrift, daß sie alle ihre einzelnen
Teile vor jedem Irrtum bewahrt.
12.) Der Exeget muß, sofern er mit wirklichem Nutzen die biblischen
Studien betreiben will, jede vorgefaßte Meinung von einem übernatürlichen
Ursprung der Heiligen Schrift beiseite setzen und diese nicht anders auslegen
als andere Bücher rein menschlichen Ursprungs.
13.) Die im Evangelium enthaltenen Gleichnisse haben die Evangelisten
selbst und die Christen der zweiten und dritten Generation künstlich
gestaltet und damit die geringe Frucht der Predigt Christi bei den Juden
erklärt.
14.) Bei mehreren Erzählungen haben die Evangelisten nicht so
sehr berichtet, was der Wahrheit entspricht, als was ihnen, wenn auch falsch,
für ihre Leser nutzbringender erschien.
15.) Die Evangelien wurden bis zur endgültigen Feststellung des
Kanon durch beständige Zusätze und Verbesserungsversuche erweitert:
deshalb ist in ihnen von den Lehren Christi nur eine schwache und unbestimmte
Spur zurückgeblieben.
16.) Die Erzählungen bei Johannes sind nicht eigentlich Geschichte,
sondern eine mystische Kontemplation über das Evangelium; die in seinem
Evangelium enthaltenen Reden sind theologische Betrachtungen über
das Geheimnis des Heiles und ohne jede historische Wahrheit.
17.) Das vierte Evangelium hat die Wunder aufgebauscht, nicht nur damit
sie mehr außerordentlich erscheinen, sondern auch damit sie geeigneter
seien das Werk und die Herrlichkeit des Fleischgewordener Wortes erkennen
zu lassen.
18.) Johannes legt sich zwar den Charakter eines Zeugen für Christus
bei: in der Tat aber ist er nur ein vorzüglicher Zeuge für das
christliche Leben oder das Leben Christi in der Kirche um die Zeit des
ausgehenden ersten Jahrhunderts.
19.) Die andersgläubigen Exegeten haben den wahren Sinn der Heiligen
Schrift treuer wiedergegeben als die katholischen Exegeten.
Der Empfang der Offenbarung und des Dogmas
20.) Die Offenbarung konnte nichts anderes sein als das vom Menschen
gewonnene Bewußtsein seines Verhältnisses zu Gott.
21.) Die Offenbarung, welche den Gegenstand des katholischen Glaubens
ausmacht, war mit den Aposteln noch nicht abgeschlossen.
22.) Die Dogmen, welche die Kirche als geoffenbarte hinstellt, sind
nicht vom Himmel gefallene Wahrheiten, sondern eine Art Auslegung religiöser
Tatsachen, zu welcher der menschliche Geist mit Mühe und Anstrengung
gelangt ist.
23.) Zwischen den in der Heiligen Schrift erzählten Tatsachen
und den Glaubenssätzen der Kirche, welche sich auf dieselben stützen,
kann ein Gegensatz bestehen und besteht wirklich, so daß der Kritiker
Tatsachen als falsch verwerfen kann, welche die Kirche als völlig
sicher glaubt.
24.) Ein Exeget, welcher Vordersätze aufstellt, aus welchen folgt,
daß Dogmen historisch falsch oder zweifelhaft seien, ist nicht zu
verurteilen, solange er die Dogmen selbst nicht direkt leugnet.
25.) Die Glaubenszustimmung gründet sich endlich und letztlich
nur auf einer Summe von Wahrscheinlichkeiten.
26.) Die Dogmen des Glaubens braucht man nur festzuhalten nach ihrer
praktischen Bedeutung, d.h. als gebietende Norm des Handelns, nicht aber
als Norm des gläubigen Fürwahrhaltens.
Christus
27.) Die Gottheit Jesu Christi läßt sich aus den Evangelien
nicht beweisen, sondern das christliche Bewußtsein hat aus der Messias-Idee
dieses Dogma abgeleitet.
28.) Jesus hat bei der Ausübung .seines Amtes nicht in der Absicht
gesprochen, um von sich zu lehren, daß er der Messias sei, noch auch
hatten seine Wunder den Zweck, dieses zu beweisen.
29.) Man kann zugeben, daß der geschichtliche Christus um vieles
tiefer stehe als der Christus, welcher Gegenstand unseres Glaubens ist.
30.) In allen Texten des Evangeliums ist der Name "Sohn Gottes" lediglich
gleichbedeutend mit dem Namen "Messias", keineswegs aber besagt er, daß
Christus wirklich und wesenhaft der Sohn Gottes sei.
31.) Die Lehre von Christus, so wie Paulus, Johannes und die Konzilien
von Nizäa, Ephesus, Chaicedon sie darbieten, ist nicht jene, die Jesus
gelehrt hat, sondern die, welche das christliche Bewußtsein in bezug
auf Jesus sich gebildet hat.
32.) Der natürliche Sinn der Texte der Evangelien läßt
sich mit dem, was unsere Theologen über das Bewußtsein und das
unfehlbare Wissen Jesu Christi lehren, nicht in Einklang bringen.
33.) Für jeden Vorurteilslosen liegt es klar zutage, daß
entweder Jesus über die nahe bevorstehende messianische Ankunft einen
Irrtum ausgesagt hat, oder daß der größere Teil seiner
in den synoptischen Evangelien enthaltenen Lehren der Authentizität
entbehrt.
34.) Der Kritiker kann Christus ein schrankenloses Wissen nicht zuschreiben
außer in der geschichtlich undenkbaren, dem moralischen Sinne widerstrebenden
Voraussetzung, Christus habe zwar als Mensch das Wissen Gottes gehabt,
nichtsdestoweniger aber die Kenntnis so vieler Dinge seinen Jüngern
und der Nachwelt nicht mitteilen wollen.
35.) Christus hatte nicht immer das Bewußtsein seiner messiam'schen
Würde.
36.) Die Auferstehung Christi ist nicht eigentlich eine Tatsache geschichtlicher
Ordnung, sondern eine weder bewiesene noch auch beweisbare Tatsache rein
übernatürlicher Ordnung, welche das christliche Bewußtsein
aus anderen allmählich abgeleitet hat.
37.) Der Glaube an die Auferstehung Christi galt anfangs nicht so sehr
der Tatsache der Auferstehung, als vielmehr dem unsterblichen Leben Christi
bei Gott.
38.) Die Lehre vom Versöhnungstode Christi ist nicht aus den Evangelien,
sondern nur paulinisch.
Die Sakramente
39.) Die Meinungen über den Ursprung der Sakramente, von denen
die Väter auf dem Konzil von Trient beherrscht waren und welche ohne
Zweifel auf ihre dogmatischen Kanones Einfluß geübt haben, sind
weit verschieden von den Ansichten, welche heute bei den Erforschern der
christlichen Vorzeit mit Recht obwalten.
40.) Die Sakramente sind daraus entstanden, daß die Apostel und
ihre Nachfolger unter Einwirkung von Umständen und Vorkommnissen eine
Idee oder eine Absicht Christi ausgelegt haben.
41.) Die Sakramente haben eigentlich nur den Zweck, daß sie dem
Menschen die allzeit wohltätige Gegenwart des Schöpfers ins Gedächtnis
rufen.
42.) Die christliche Gemeinde hat die Notwendigkeit der Taufe eingeführt,
indem sie dieselbe zu einem unerläßlichen Ritus annahm und damit
die Verpflichtungen des christlichen Bekenntnisses verknüpfte.
43.) Der Gebrauch, auch Kindern die Taufe zu spenden, war eine Weiterentwicklung
auf disziplinarem Gebiet, welche Mitursache war, daß dieses Sakrament
in zwei, nämlich Taufe und Buße, geschieden wurde.
44.) Nichts beweist, daß das Sakrament der Firmung schon von
den Aposteln in Anwendung kam: eine ausdrückliche Scheidung der beiden
Sakramente, Taufe und Firmung, hat in der Geschichte des Urchristentums
keinen Anhaltspunkt.
45.) Nicht alles, was Paulus (l Kor.11,23-25) über die Einsetzung
der Eucharistie erzählt, ist historisch zu nehmen.
46.) In der Urkirche wußte man nichts von einer Versöhnung
des christlichen Sünders durch die Autorität der Kirche, sondern
nur äußerst langsam hat die Kirche an eine solche Auffassung
sich gewöhnt. Selbst nachdem die Buße als kirchliche Einrichtung
anerkannt war, wurde sie nicht mit dem Namen "Sakrament" belegt, da man
sie als entehrendes Sakrament betrachtete.
47.) Die Worte des Herrn: "Empfanget den Heiligen Geist: welchen ihr
die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen, und welchen
ihr sie behalten werdet, denen sind sie beha1ten" (Joh.20,22-23), beziehen
sich gar nicht auf das Sakrament der Buße, was immer die Väter
von Trient darüber behauptet haben mögen.
48.) Jakobus beabsichtigt in seinem Briefe (5,14.15) keineswegs, ein
Sakrament Christi zu verkündigen, sondern will nur einen frommen Gebrauch
empfehlen; und sollte er auch vielleicht in diesem Gebrauch ein Mittel
der Gnade erblicken, so nimmt er dies doch nicht in dem strengen Sinn der
Theologen, welche Begriff und Zahl der Sakramente festgestellt haben.
49.) Indem das christliche Abendmahl allmählich die Gestalt einer
liturgischen Handlung annahm, erlangten die, welche dem Abendmahle gewöhnlich
vorzustehen pflegten, den priesterlichen Charakter.
50.) Die Ältesten, welche bei den Versammlungen der Christen die
Aufsicht führten, wurden von den Aposteln als Presbyter oder Bischöfe
aufgestellt, um in den anwachsenden Gemeinden für die nötige
Ordnung zu sorgen, aber nicht eigentlich, um die Mission und Vollmacht
der Apostel fortzusetzen.
51.) Erst spät konnte die Ehe in der Kirche ein Sakrament des
Neuen Bundes werden; denn der Auffassung der Ehe als Sakrament mußte
die volle Entfaltung der theologischen Lehre über Gnade und Sakramente
vorausgehen.
Die Verfassung der Kirche
52.) Im Sinne Christi lag es nicht, die Kirche als eine Gesellschaft
zu begründen, die eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch auf
Erden bestehen sollte; vielmehr stand nach der Meinung Christi das Himmelreich
zugleich mit dem Weltende unmittelbar bevor.
53.) Die organische Verfassung der Kirche ist nicht unveränderlich,
sondern die christliche Gesellschaft ist, gleich wie die menschliche, einer
steten Entwicklung unterworfen.
54.) Dogmen, Sakramente, Hierarchie, sowohl ihrem Begriff wie ihrer
Tatsächlichkeit nach, sind nur Ausdeutungen und Weiterentwicklungen
des christlichen Gedankens, die den winzigen im Evangelium verborgenen
Keim durch äußere Zutat wachsen und sich vervollkommnen ließen.
55.) Simon Petrus hat sich niemals auch nur den Gedanken bei kommen
lassen, als sei ihm von Christus der Primat der Kirche übertragen.
56.) Die Römische Kirche ist nicht durch Anordnung der göttlichen
Vorsehung, sondern durch Umstände rein politischer Art das Haupt aller
Kirchen geworden.
57.) Die Kirche stellt sich dem Fortschritt der natürlichen und
theologischen Wissenschaft feindlich entgegen.
Die Unveränderlichkeit der religiösen Wahrheiten
58.) Die Wahrheit ist nicht unveränderlicher als der Mensch selbst,
da sie mit ihm, in ihm und durch ihn zur Entfaltung kommt.
59.) Christus hat einen festbegrenzten Lehrinhalt, der für alle
Zeiten und alle Menschen Geltung haben sollte, nicht gelehrt, sondern vielmehr
eine gewisse religiöse Bewegung eingeleitet, die den verschiedenen
Zeiten und Orten sich anpaßte oder angepaßt werden sollte.
60.) Die christliche Lehre war in ihrem Ursprunge jüdisch, wurde
aber auf dem Wege verschiedener Entwicklungsstufen erst paulinisch, dann
johanneisch, zuletzt hellenisch und allgemein.
61.) Ohne Widerspruch kann behauptet werden, kein Kapitel der Heiligen
Schrift vom ersten der Genesis bis zum letzten der Apokalypse enthalte
eine Lehre völlig gleichförmig mit der, welche über dieselbe
Sache die katholische Kirche lehrt, und es habe daher kein Kapitel der
Heiligen Schrift den gleichen Sinn für den Kritiker und für den
Theologen.
62.) Die Hauptartikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses haben
für die Christen der ersten Zeiten nicht denselben Sinn gehabt wie
für die Christen unserer Tage.
63.) Die Kirche erweist sich unvermögend, die Ethik des Evangeliums
wirksam zu schützen, weil sie hartnäckig Lehren als unabänderlich
festhält, die mit den heutigen Fortschritten nicht zu vereinigen sind.
64.) Der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, daß die Auffassungen
der christlichen Lehre von Gott, Schöpfung, Offenbarung, Person des
Fleischgewordenen Wortes, Erlösung reformiert werden.
65.) Der heutige Katholizismus läßt sich mit der wahren
Wissenschaft nicht in Einklang bringen, wenn er nicht umgewandelt wird
in ein undogmatisches Christentum, d.h. einen weitherzigen und freisinnigen
Protestantismus.
Nachdem am darauffolgenden Tage, Donnerstag, den 4. Juli desselben Jahres, Seiner Heiligkeit unserem Heiligen Vater Papst Pius X. über alles dies genauer Bericht erstattet war, hat Seine Heiligkeit den Erlaß der vorbezeichneten Eminenzen gutgeheißen und bestätigt, und befohlen, daß alle und jede der oben bezeichneten Behauptungen von allen als verworfen und verboten zu betrachten seien.
Petrus Palombelli, Protonotar der Heiligen Römischen Kirche